Auf dem Pfad der Götter. Marc Short. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marc Short
Издательство: Bookwire
Серия: Auf dem Pfad der Götter
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742752376
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er sich in Fahrtrichtung drehte, baute sich das Bild des Hafens in voller Größe auf. Seine Anlegestelle kam in Sicht. Er sog die Lunge voll Luft, dann drehte er sich nochmals um und … atmete erleichtert, aber irgendwie auch enttäuscht auf. Das Drachenschiff blieb im Nebel zurück. Löste sich darin auf. Wie seltsam. Aber es war gut; Tibor wollte sich nicht weiter damit befassen. Denn er wurde das Gefühl nicht los, dass dieses Schiff von keinem Menschen gesteuert worden war. Wie das Geisterschiff aus dem Film Ghost Ship. „Unsinn! Genug.“, rief er laut aus. Da ging ein Ruck durch den Fischkutter und Tibor sprang vom Schiff auf dem Steg. Fast hätte er dabei sein Gleichgewicht verloren. Er schüttelte verwirrt den Kopf und strich im nächsten Moment behutsam über seine Hemdtasche. Dann sah er auf seine Hände, die stärker Zittern als es die Situation erforderte. Er zuckte mit den Schultern. Gut, dass er heute nichts Ausladen musste. So konnte er die NORDLICHT gleich festmachen, ohne noch den Umschlagplatz anzusteuern. Bis zur nächsten Ausfahrt, dachte er mit einem Lächeln und wand sich den Gebäudeblöcken der Stadt zu.

      Die Sonne war beinahe untergegangen, als er bei dem kleinen Häuschen seiner Mutter ankam. Seltsam, die Türe war gar nicht verschlossen. Hatte sie geahnt, dass er bald kommen würde? Oder war er gar so laut gewesen, dass Emilia ihn gehört hatte? Seinem Atem zufolge war das gar nicht so abwegig. „Mom“, sagte er. „Ich muss mich entschuldigen! Aus den ein bis zwei Fischen ist nicht einmal einer geworden. Aber du wirst mir nicht glauben, was-“

      Tibor brach mitten im Satz ab. Diese Stille, sie kam ihm seltsam vor. Er betätigte den Lichtschalter. Gedimmte Helligkeit empfing ihn. Er spürte, wie sein Herz gegen die Brust schlug. Neben dem halbstündigen Fußmarsch lag das an der Ungewissheit. „Emilia? Mom?“, rief er nochmals, während er den Lichtschalter drehte und die Helligkeit zunahm. „Mom? Was ist denn nur los?“

      Er hätte lieber nicht gesehen, was in sein Blickfeld geriet. Feuchtigkeit bildete sich in den Augenwinkeln. Die Knie wurden ihm weich, als er näher trat. Dort lag jemand mitten im Flur auf dem Boden und bewegte sich nicht. „Nein! Bitte. Wer, wer würde so etwas tun? Sag, dass das ein Scherz ist! Mom!“ Er schob sich langsam zu dem reglos vor ihm liegenden Leib, fühlte sich dabei schwer wie ein Stein und ungelenk wie jener. Der Körper lag in einer roten Lache, mit einem Tuch bis zum Kinn bedeckt. Tibor hob die Decke an, zog sie mit letzter Kraft weg und erstarrte. Da lag nicht seine Mutter. Da lag ein Unbekannter, ein Ungeheuer! Sein Körper war hünenhaft, das lange Haar silbergrau – nicht blond! Eine geflochtene Strähne hing dem Unbekannten ins Gesicht – nicht ihr wunderbarer Zopf! Die Decke hatte all das wunderbar verborgen gehalten, hatte die Gestalt kleiner gemacht, als sie tatsächlich war.

      Tibor warf die Hände in einer Geste der Verzweiflung von sich. Durch den Tränenschleier, der jetzt durch Zorn und Wut in seinem Bauch entstand, suchte er die Umgebung ab, blickte in jeden Winkel des Zimmers. Wer hatte das getan? Wollte man ihm einen Mord anhängen? „Wo bist du? Zeig dich!“, schrie er.

      Als keine Antwort kam, ballte er eine Faust und schwang sie über dem fremden Körper hin und her. Über dem Gesicht des schlafenden Toten hielt er inne. „Und wer bist du?“, fragte er, mit einer Stimme, die nur noch ein Flüstern war. Da hoben sich die Lider und ein Blick aus silbergrauen Augen traf ihn, ging ihm durch und durch.

      Er lebt, sagt eine Stimme in seinem Geist und noch ehe er reagieren konnte, schob sich der kräftige Leib in die Höhe, als wäre nichts gewesen. Die Augen waren schmale Schlitze, die dichten Brauen lagen eng beieinander. Wild fuhren sie hin und her. Er sucht etwas, begriff Tibor. Etwas oder jemanden?

      Der Mann überragte ihn um mehr als einen Kopf und dass, obwohl er selbst mit seinen 1,85 Metern nicht gerade klein war. Ein Mann wie ein Schrank. Tibor fragte sich, wie der Fremde durch die Tür gekommen war. Seine Füße steckten in schweren dunklen Stiefeln, eine olivgrüne Leinenhose erstreckte sich über den Rumpf und bändigte das weiße Hemd, welches er nicht einmal zugeknöpft hatte. Nein, nicht ganz richtig, es war gerissen, die Knöpfe fehlten und bei näherem Hinsehen waren die Spuren eines Kampfes sichtbar. Die Ärmel waren zerfetzt, darunter kamen raue, große Hände zum Vorschein. Am rechten Arm befand sich ein braunes, breites Armband. Tibors Blick blieb an der muskulösen Brust haften, die sich im raschen Tempo hob und wieder senkte. Dieser Fremde muss das Herz eines Stiers besitzen, schoss es Tibor durch den Kopf. Wenn dieser Kerl seiner Mutter auch nur irgendetwas getan hatte …. Verdammt! Er musste ihn zur Rede stellen.

      Das Herz des jungen Mannes raste, als er sich breitbeinig hinstellte und die Arme vor seiner eigenen Brust verschränkte, was ihm beinahe lächerlich vorkam. Wie David gegen Goliath, dachte er, und versuchte seine Mimik zu beherrschen. Er durfte nicht zittern, noch Angst zeigen und den Blick nicht senken. Der Unbekannte musterte noch immer den Raum, dann endlich hielt er inne und ihre Blicke trafen sich.

      Tibors blaue Augen trafen auf die grauen des Unbekannten. Tibor fühlte sich, als würde er von einem Sturm aufgesogen werden. Die Härte verschwand aus dem Blick, an ihre Stelle trat eine Mischung aus Wissen und Macht, als hätte der Anwesende Zeiten überdauert, die kein Sterblicher je erblicken würde und Welten gesehen, die kein Mensch je zuvor erblickt hatte.

      „Wer bist du?“, wiederholte Tibor seine Frage. Diesmal mit fester Stimme und weniger von dieser Situation beherrscht als zuvor. Er hoffte, dass seine Angst und sein Staunen nicht bemerkt wurden. Das durfte einfach nicht sein, denn nur dieser Mann kannte die Wahrheit, wusste, was mit Emilia geschehen war, wusste, was hier geschehen war. Tibor würde ihn nicht gehen lassen, ehe er dies aus ihm herausbekommen hatte. Und wenn es seinen Tod bedeutete. Dann sehe ich eben meinen Vater wieder, dachte er und hoffte, dass es dazu noch nicht kommen musste.

      Der bärtige Mund seines Gegenübers öffnete sich, verzog sich zu einem ironischen Grinsen. „Mutig, wirklich mutig bist du.“ Die Stimme war wie ein Donnerhall – rau, fest und von solcher Kraft, dass er meinte, das Haus würde über ihm einstürzen. Und er bildete sich ein, gegen diesen Mann eine Chance zu haben? Ja, sagte er sich, es kommt nicht nur auf Kraft und Donner in der Stimme an!

      „Sag mir, wer du bist! Und dann sagst du mir, wo meine Mutter ist.“

      „Mut und Wut. Nicht immer ist beides so gut. Aber manchmal lassen sie einen gemeinsam über sich selbst hinauswachsen – nicht wahr?“ Der Fremde ging leicht in die Knie.

      „Halt! Bleib, wo du bist!“, rief Tibor und hob die zur Faust geballte Rechte. Mit dem rechten Fuß trat er im Gegenzug ein Schritt zurück. Immer stabil stehen, dachte Tibor. Immer ausgeglichen bleiben.

      „Ja“, sagte der Fremde. „Du scheinst es in der Tat zu sein. Sie hat sich nicht geirrt. Und keine Sorge, ich bleibe.“

      Tibor versuchte, sich sein Grübeln nicht anmerken zu lassen. Er durfte seinen Standpunkt nicht verlieren. Mit der Hoffnung, das „Sie“ im Satz des Fremden war auf Emilia bezogen, fragte er: „Wer ist sie? Meine … Mutter?“

      Der Mann stieß ein Lachen aus, das mehr einem Gurgeln glich und bei dessen Lautstärke er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.

      „Sie ist in gewisser Weise anders. Ihr werdet euch noch kennenlernen“, sagte der Fremde und betonte dabei das erste Wort besonders. Die Art der Selbstverständlichkeit, mit der der Fremde sprach, setze weitere Energien in Tibor frei. Jetzt brauchte er ein Ventil, Bewegung im Körper, denn das Warten wurde immer mehr zur Qual.

      Sein Blick verschleierte sich noch im Laufen und als er die wenigen Schritte zu dem anderen getan hatte, prügelte er darauf los. „Was ist mit ihr? Wo ist sie? Sag es mir endlich!“

      Der riesenhafte Fremde wich den Schlägen mühelos und mit einer Schnelligkeit aus, wie Tibor es seinem Gegenüber dem Körperbau nach nicht zugetraut hätte. Eines seiner Beine fuhr aus und zog im gleichen Zug Tibor das seinige weg. Mit einem lauten Krachen landete er auf dem Rücken. Vor Schmerz verzog er das Gesicht. „Verdammt!“

      „Jetzt mal ganz mit der Ruhe“, sagte der uneingeladene Gast und hob beschwichtigenden die Hände. Er setze eine freundliche Miene auf. Willst du endlich Schluss mit Rätseln machen?“, fragte Tibor grimmig.

      „Es geht um dich und deine Rettung!“, setzte sein Gegenüber an. „Deine Mutter ist höchstwahrscheinlich