Der Witwer überquert den Berg. Ronald Kloska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ronald Kloska
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769992
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Toastscheiben ohne Butter fällt nicht leicht. Vermutlich hat unser Gastgeber die verschimmelten Toastecken vorher abgeschnitten. Er wirkt erstaunlich frisch und gepflegt heute Morgen. Wahrscheinlich denkt er tatsächlich, es hätte uns gut gefallen im West Highland Way Sleeper, einer Unterkunft zum Erinnern, zum zukünftig immer wieder neu erzählen.

      Viel besser als der schönste Sonnenuntergang.

      So lässt er es sich nicht nehmen, zum Abschied ein Gruppenfoto zu machen.

      Der Herbergsvater verschwindet in seinem Wohnwagen, The Royal Scotsman fährt ab Richtung Süden, wir wollen weiter nach Norden.

      Der Doktor

      Die beiden Betontürme des Atomkraftwerks beherrschen das Bild.

      Der weiße Rauch hat Respekt vor dem strahlend blauen Himmel und will sich von ihnen nicht so recht trennen. Wie Sahnehäubchen bleibt er obendrauf liegen und wartet erst mal ab.

      Die Weser davor fließt lautlos und hat das gleiche Ziel wie die Pilger am gegenüber liegenden Ufer. Hameln heißt die nächste Stadt, aber bis dahin dauert es noch. Die Zeit vergeht langsam an diesem heißen Tag im Juni. Dreißig Grad oder noch mehr. Keiner redet. Jeder spart Worte und Kräfte. Nur der Schweiß hat es eilig. Von oben läuft er in Strömen herab, beißt genussvoll in die Augen und chillt dann im Schatten zwischen Rücken und Rucksack. Herrlich, denkt er, genau mein Wetter!

      Verdammt, denkt er, jetzt tut es langsam weh.

      Er, der Gruppenälteste, hat neue Schuhe. Extra für diese Tour.

      Seit Tagen lobt er sie in den höchsten Tönen.

      Großartige Schuhe! Super Qualität! Passen wie angegossen!

      Jetzt aber kann er die fette Blase am großen Zeh nicht mehr ignorieren. Bei jedem Schritt fordert sie seine Aufmerksamkeit und macht Schluss mit dem Märchen von guten Schuhen.

      Muss er wohl doch zum Doktor.

      Der Doktor, jedenfalls wird er so genannt, ist einer von ihnen.

      Der Schamane der Pilger, der Wunderheiler, spezialisiert auf das Stechen von Blasen.

      Mit weißen Taschentüchern verwandelt er jede Besenkammer in einen sterilen Operationssaal.

      Der auf dem Tisch gelagerte Fuß verschwindet in einer Wolke Desinfektionsspray.

      Mit äußerster Präzision jagt er die mit einem Feuerzeug keimbefreite Nadel durch die rot angelaufene Blase.

      Mit durch konsequenten Alkoholverzicht beeindruckend ruhiger Hand zieht er einen Baumwollfaden hinterher.

      "Der saugt das Wasser 'raus" kommentiert er nebenbei seine medizinische Meisterleistung.

      Das Pflaster zum Schluss betrachtet er als zusätzlichen perfekten Service. Ehrensache.

      Der Doktor. Was würden die Pilger nur ohne ihn machen?

      Mit Heulen und Zähneklappern würde jede Tour lange vor dem Ziel enden. Auf Händen müssten sie ihn eigentlich tragen.

      Aber dazu ist bei der Hitze dann doch niemand bereit.

      Der Eckbauer

      Acht Euro Fünfzig.

      Ob Leberkäse oder Leberknödel auf Sauerkraut, ob Linsensuppe oder Erbseneintopf mit Würstl, der Preis ist immer gleich.

      Von der gut besuchten Terrasse des Berggasthofs Eckbauer auf dem Berg Eckbauer gleich hinter Garmisch-Partenkirchen reicht der Blick bis zum Wettersteinmassiv vor der Zugspitze und zum Karwendelgebirge.

      Sie lehnen sich zurück und lassen die gute Laune der vielen Menschen und das ebenfalls gute Wetter auf sich wirken.

      Endlich, beim dritten Versuch können Sie in diese Stimmung eintauchen.

      Beim ersten Besuch hatte der Gasthof seinen wöchentlichen Ruhetag. Der zweite Aufstieg war anstrengend, zu anstrengend.

      Bis zu achtzig Meter ragen die Wände der Partnachklamm senkrecht in die Höhe und die Partnach wühlt sich ganz unten mit unbändiger Kraft immer tiefer ins Gestein. Es ist unmöglich, bei dem lauten Rauschen des Wassers auch nur ein Wort zu verstehen. Hier hat nur das Wasser etwas zu sagen. Mit Wucht schießt es durch die enge Klamm. Es scheint aufgebracht zu sein und schäumt vor Wut. Kurz über dem Wasser verläuft der Wanderweg auf Stegen und in die Wände gesprengten Pfaden. Wer hoch auf den Eckbauer will, geht zuerst durch diesen Abgrund. Egal, wie das Wetter oben ist, hier unten ist es immer nass und kalt.

      Hier unten wohnt Maria mit ihrem Sohn. Mitten in der Schlucht steht die kleine Statue etwas oberhalb der tosenden Fluten in einer Nische in der nassen Steinwand. Sie wird gerne übersehen, ihr selbst jedoch entgeht niemand der vorbei ziehenden Personen. Bereits zum zweiten Mal bemerkt sie ihn mit seiner Frau und sie mit ihrem Mann.

      Nach der engen Klamm versprechen die steil nach oben führenden Serpentinen einen schweißtreibenden Anstieg in die Höhe bis zum Gasthof. Von dort wollen sie mit der Eckbauer-Bergbahn wieder herunterfahren.

      Eine giftige Kreuzotter schlängelt sich kurz vor seinen Füßen über den Weg. Leise fauchend scheint sie fast zu schweben.

      So leicht machen es die knackigen Steigungen den eigenen Beinen nicht.

      Er weiß, dass sie zu langsam sind und sich zu viel Zeit lassen, aber sie kann nicht mehr, bleibt immer wieder stehen und macht Pause.

      "Wenn ich auf meinen Kopf klopfe, klingt es ganz hohl", hört er sie sagen.

      Sie wissen noch nicht, dass sich in dem Hohlraum um einen der beiden Hirntumore das Wasser sammelt.

      Sie wissen nicht einmal etwas von deren Existenz.

      Doch sie wissen, dass sie diesen Weg auf den Berg gemeinsam schaffen.

      Oben angekommen, hat der Berggasthof allerdings schon geschlossen. Die letzte Gondel zur Talfahrt verpassen sie nur knapp, aber weg ist weg. Während er dieser noch ratlos hinterher schaut, geht sie wortlos an ihm vorbei, um auf der anderen Bergseite wieder abzusteigen.

      Jetzt noch fast zwei Stunden Abstieg?

      Wo nimmt sie diese Kraft her?

      Seine Ratlosigkeit weicht der Bewunderung für ihre Stärke und ihren Willen, für die Kompromisslosigkeit, mit der sie ihre Entscheidungen trifft. Wenn es darauf ankommt, ist sie immer da und bleibt auf ihrem Weg, direkt und geradeaus.

      So steil wie der Aufstieg, ist auch der Weg bergab. Unten angekommen, bleiben sie lange erschöpft sitzen, um sich auszuruhen. Sehr lange.

      Heute aber, mit der Leichtigkeit eines sonnigen Tages, hat alles gepasst und sie lesen die überschaubare Speisekarte des Berggasthofs Eckbauer auf dem Berg Eckbauer.

      "Einen großen Eiskaffee", sagt sie, "den gönnen wir uns." Er schmeckt herrlich und mit jedem Blick auf die gegenüber liegenden Bergketten schmeckt er noch besser.

      "Lass uns das genießen."

      Ihre Worte klingen wie eine Vorahnung, dass es der letzte gemeinsame Eiskaffee sein könnte.

      Während seine Augen gegen die Sonne in den Himmel blinzeln, ziehen auch in seinem Kopf dunklere Wolken auf.

      Unbewusst steckt er die Speisekarte ein.

      Sie hängt seitdem zuhause in der Küche an der Wand, wo sie langsam verblasst.

      Genauso wie das Foto vom Gasthaus Eckbauer, welches er nachträglich über den Eiskaffeepreis geklebt hat.

      Der Preis ist letztendlich auch egal.

      Was wirklich zählt, ist der Genuss auf dieser Terrasse in den Bergen, das Gefühl von Höhe, der Blick in die Weite und die Erinnerung daran sowie an das Sahnehäubchen obendrauf.

      Was