Der Witwer überquert den Berg. Ronald Kloska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ronald Kloska
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769992
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      Sie sind jung und knackig aber der Opel alt und rostig. Noch in Deutschland gibt der Auspuff auf und die Schrottkarre wird laut und langsam. Die Fähre über den Ärmelkanal verpassen sie um wenige Minuten und winken ihr noch nach.

      Schließlich doch auf Englands Straßen unterwegs, droht ein Polizist mit Gefängnis, wenn sie sich nicht endlich an den Linksverkehr halten.

      Hier fahren alle verkehrt herum und seine neue Freundin hat den Führerschein noch nicht so lange.

      Jetzt steht ihr Zelt im Nieselregen und heute wollen sie nach London, in die City.

      Auf dem Bahnsteig des Londoner Vorortes warten sie auf die U-Bahn, die hier draußen allerdings noch über Tage fährt. Ein Zug rollt ein und alle Türen schieben sich wie von Geisterhand auf. Er spaziert am Zug entlang, um ein nettes Abteil auszusuchen, lässt sich aber etwas zu viel Zeit. Ein kurzer Warnton, dann schließen sich die Türen wieder und der Zug fährt los.

      Er dreht sich um und ruft: "Das ging aber schnell, hast du...", sie ist weg.

      Aus dem Fenster heraus sieht sie ihn auf dem sich entfernenden Bahnsteig.

      Er sieht sie in dem abfahrenden Zug.

      Sie ist weg! Einfach eingestiegen.

      Wieso steigt sie denn ein durch die offenen Türen?

      Wie kann das angehen? Und was nun?

      Elf Minuten vergehen in England langsamer als in Deutschland. In elf Minuten kommt wieder ein Zug und wenn sie schlau ist, steigt sie am nächsten Bahnhof aus und wartet auf ihn. So würde er es machen.

      Nichts zu sehen von ihr. Auch nicht beim nächsten Halt und danach auch nicht.

      Warum steigt sie nicht aus, verdammt?

      "Warum steigst du nicht ein, du Idiot?", fragt er sich. "Du weißt doch, wie orientierungslos sie sein kann." Immerhin, so gut kennt er sie schon.

      Allein in London wäre sie doch hoffnungslos verloren!

      Der Zug taucht ab in den Untergrund und je näher er der Innenstadt kommt, desto voller werden die Bahnsteige und desto voller wird die Bahn.

      "Die findest du nie!" Verzweiflung kommt auf. Ein Plan muss her.

      Er spricht mit sich selbst: "Denk nach, Mann. Habt ihr irgendwas abgemacht?

      Eine Sehenswürdigkeit, ein Stadtviertel, eine Kirche, eine Veranstaltung?"

      Nein, nichts geplant. Sie wollten sich treiben lassen, ungezwungen und frei.

      Er studiert den U-Bahn-Plan, der an der Wand hängt. Gestern Abend im Zelt hatten sie auch so einen Plan vor der Nase. Hatte er nicht vorgeschlagen, wo sie gut aussteigen könnten? Ja klar... Piccadilly? Nein, Oxford Circus, genau! "Liegt mittendrin, guter Ausgangspunkt", das waren doch seine Worte.

      "Ja, das sehen wir morgen" war ihre Antwort.

      Oxford Circus, noch sechs Stationen.

      Das ist der Plan!

      Oxford Circus ist ein U-Bahnkreuz mitten in der City of London.

      Voll ist es, übervoll.

      Alle strömen zu den Ausgängen. Nur er hält dagegen wie ein Felsen im Wasserfall. Irgendwann ist der Bahnsteig leer.

      Graue Fliesen auf dem Boden, weiße Fliesen an den Wänden. Riesige bunte Werbeflächen.

      Wie lang der ist! 200 Meter, 400 Meter?

      Da hinten, ganz am anderen Ende, da steht sie doch! Das ist sie doch!

      Ist ja filmreif, denkt er, als sie sich aufeinander zu bewegen. Erst langsam, dann schneller, dann rennen sie bis zur Umarmung.

      Die ist lang, fest und innig.

      Es sollen noch viele weitere folgen, aber diese ist am Anfang, voller Dankbarkeit und Glück.

      Let's go.

      This is London and this is everywhere.

      Bridge of Orchy

      Zuerst fließt der Fluss durch die Highlands.

      Danach geschieht lange Zeit nichts.

      1751 baut jemand eine Brücke über den River Orchy, später einen Pub für alles Lebenswichtige und ein Hotel für die Hoffnung. Außerdem einen Bahnhof zum Abreisen. Ein Gleis Richtung Norden und eines, um in Schottlands Süden zu kommen. Zwischen den Gleisen liegt der Bahnsteig und darauf steht die von uns gebuchte Unterkunft.

      The West Highland Way Sleeper.

      Hört sich gut an. Nach einer langen Trekkingtour sind unsere Füße platt aber die Herberge ist verlassen und verschlossen. Gerümpel und Müll hinter den Fenstern lassen eine leichte Panik aufkommen. Diskussionen und Telefonate werden geführt.

      Wie ein Geist aus dem Hochmoornebel entsteigt er dann doch irgendwann seinem Wohnwagen und schlendert über den Bahnsteig, der Herbergsvater.

      Die einen halten ihn für leicht angetrunken, die anderen für sternhagelvoll. Wahrscheinlich hat er aber nur sein Level, welches er nun mal täglich spät nachmittags hat.

      Stolz zeigt er uns die Schlafsäle, jedenfalls nennt er sie so. Unsere Bemerkung, es sei doch alles möglicherweise geringfügig unsauber entlockt ihm ein erstaunliches Repertoire an Schimpfwörtern.

      Den Mief muss man mögen, die Unordnung tolerieren. Die wackeligen Drei-Etagen-Betten in den engen Räumen könnten tatsächlich noch eine Nacht durchhalten, bevor sie auseinanderfallen. Die fleckige Bettwäsche auf den durchhängenden Matratzen vermittelt einen Hauch Gemütlichkeit. Ihre kleinen einheimischen Bewohner feiern in der dunkelsten Ecke ein Erntedankfest: "Halleluja, fünfzehn frische deutsche Pilger für eine ganze Nacht. Hoffentlich duschen sie nicht vorher. Was sind wir doch für glückliche Flöhe."

      Die Duschkabinen liegen gleich nebenan. Warmes Wasser hat eh niemand erwartet und die verstopften Abflüsse, die einen überfluteten Schlafraum zur Folge haben, sind so selbstverständlich wie die fehlenden Schränke und Sitzgelegenheiten.

      Zum Dinner spazieren wir ins leider ausgebuchte Hotel und wechseln anschließend in den Pub, wo sich unsere Spur verliert. Ziemlich viel Volk hier.

      Im Television läuft ein Fußballspiel der Europameisterschaft. Stephan und ich sitzen an der Bar und trinken Guinness sowie einen rauchigen Single Malt.

      "A little bit smoky, that whisky," meint der Barkeeper.

      "Schmeckt wie ein Stück Holzkohle," bemerkt Stephan.

      "Oh ja, jetzt schön grillen," sage ich und bestelle nochmal zwei.

      "Wer hat eigentlich gespielt?" fragen wir uns, nachdem das Fußballspiel vorbei und der Pub fast leer ist.

      Wir schleichen zurück zum Pilger-Resort und halten den im Bahnhof parkenden Luxuszug zunächst für eine Folge des letzten der vielen Whiskys.

      The Royal Scotsman der Great Scottish & Western Railway Company übernachtet auf seiner Rundreise tatsächlich genau hier und wir drücken uns an den Zugfenstern die Nasen platt.

      Innen serviert ein Kellner im weißen Hemd nach einem fünf Gänge Menü gerade einige Gläser Holzkohle. Für Bügelfalten und Krawatten war in unseren Rucksäcken kein Platz mehr und deshalb bleibt uns der Zutritt ins Ambiente der Reichen und Schönen verwehrt.

      Zumindest Letzteres nehmen wir für uns jedoch auch in Anspruch und es wird Zeit für unseren Schönheitsschlaf.

      Wie ein Matrose entere ich hinauf in das dritte Bett von unten. Früh morgens wache ich auf und sehe gegenüber ein Paar Füße aus der Bettdecke ragen. Ganz sicher bin ich nicht aber das können nicht meine sein. Schnell ein Foto zur Überprüfung am nächsten Tag, sofern der noch kommen sollte.

      Wie erwartet, ist das Frühstück reichhaltig und fürstlich.