Während der Fahrt zum Hauptgebäude des Colleges schweigen wir. Hannah tippt immerzu auf ihrem Handy herum, während ich öfter als nötig einen Blick in den Rückspiegel werfe. Am liebsten würde ich mir selber in den Hintern treten und mich zur Ordnung rufen. Wer auch immer hinter dieser Geschichte steckt, wird mir wohl kaum am helllichten Tag am College gefährlich werden.
Zehn Minuten später fahre ich langsam auf den Parkplatz und halte nach einer freien Lücke Ausschau.
„Warum wolltest du noch einmal mit dem Auto fahren, anstatt zu Fuß zu gehen?“, erkundigt sich Hannah gefrustet, während sie ihren Blick von rechts nach links wandern lässt.
„Ich habe keine Lust, die ganzen Bücher mit mir herumzuschleppen. So kann ich mir immer das aus dem Auto holen, was ich gerade brauche“, erwidere ich, obwohl ich es ihr schon vor einer Stunde erklärt habe. Deswegen habe ich keine Ahnung, wieso ich es noch einmal sagen muss. Allerdings muss ich zugeben, dass es nicht die ganze Wahrheit ist.
Ich habe heute zwar einige Dinge zu erledigen, was mit dem Auto bedeutend einfach ist, aber der Schreck vom Wochenende ist noch so allgegenwärtig, dass ich mich sicherer fühle, wenn ich meinen Wagen dabeihabe.
„Willst du mir wirklich nicht sagen, was mit dir los ist? So zickig kenne ich dich überhaupt nicht.“ Bei ihren Worten macht sich das schlechte Gewissen in mir breit. Bevor ich ihr doch noch die Wahrheit sage, beiße ich mir jedoch auf die Lippen.
„Es tut mir leid“, seufze ich. „Ich meine es nicht so.“
„Das weiß ich“, gibt sie zurück und lächelt mich aufmunternd an. „Da vorne ist einer frei!“, schreit sie in er nächsten Sekunde und zeigt dabei auf eine Lücke.
Schnell fahre ich darauf zu und parke das Auto. Es ist jedes Mal eine Tortur, hier einen Parkplatz zu finden. Meistens drehe ich mehrere Runden, um endlich einen zu bekommen. Deswegen ist es eine freudige Überraschung, dass es auf Anhieb geklappt hat.
„Sehen wir uns zum Mittag?“, fragt Hannah, als wir uns an den parkenden Autos vorbeiquetschen.
„Ich glaube nicht“, antworte ich entschuldigend. „Ich muss Unterlagen in der Bücherei zusammensuchen, die ich für eine Vorlesung heute Nachmittag brauche.“
Hannah und ich belegen nicht denselben Studiengang. Sie hat sich für Journalismus eingeschrieben und geht darin richtig auf. Ich wiederum studiere Biologie, aber weniger, weil ich mich dafür interessiere, sondern weil ich so das Andenken meiner Mutter in Ehren halten möchte. Sie war die einzige Bezugsperson in meinem Leben und dadurch, dass ich das mache, fühle ich mich ihr näher. Sie hat nach ihrem Abschluss an dem College in Los Angeles als Biologin gearbeitet. Das war, bevor sie mich bekommen hat und zusammen mit mir nach Dallas gezogen ist. Sie war keine Umweltaktivistin, hat aber immer wieder betont, wie wichtig es ist, auf unsere Umwelt zu achten.
„Du lernst zu viel“, stellt meine Freundin fest und knufft mich in die Seite.
„Wahrscheinlich, aber nur habe ich eine Chance, das Studium vorzeitig beenden zu können.“
„Es ist dir ernst damit, oder?“
„Sehr ernst“, murmle ich und unterstreiche meine Antwort mit einem Nicken.
„Ich weiß, dass du es wegen deiner Mutter machst und ich bin mir sicher, dass sie stolz auf dich wäre. Egal, ob du früher fertig bist oder nicht. Genauso wie es ihr sicherlich egal ist, was du studierst, solange du glücklich bist.“ Mit einem warmen Lächeln schaut sie mich an. „Ich drücke dir die Daumen, aber du hättest weniger Stress, wenn du mal einen Gang runterschalten würdest. Du kannst mir ja schreiben, falls du es dir anders überlegst.“
„Das werde ich machen“, antworte ich ihr.
Hannah schließt mich noch einmal in ihre Arme, bevor sie sich umdreht und mich zwischen all den anderen Studenten alleine lässt.
Jeden Tag bin ich ein Teil dieser Gruppe, so wie heute auch. Ich gehe von einer Vorlesung zur nächsten und mache zwischendurch Hausaufgaben oder recherchiere. Meistens esse ich unterwegs und finde kaum die Zeit, auf die Toilette zu gehen. Es gibt Tage, an denen schaue ich nicht einmal auf die Uhr und bemerke erst, wie spät es ist, wenn es dunkel wird. Aber der ganze Stress lohnt sich. Ich gehöre zu den fünf Besten meines Jahrgangs.
Als ich um sechs Uhr abends endlich wieder zu meinem Wagen gehe, bin ich ausgelaugt. Zwischen all den Kursen wollte sich mehr als einmal der Gedanke an diesen Mann in meinen Kopf schleichen. Doch bevor er sich dort einen Platz suchen konnte, habe ich ihn zur Seite geschoben.
Den ganzen Tag hatte ich das Gefühl, als würde man mich beobachten. In der Bücherei habe ich mich sogar zu den anderen gesetzt, obwohl ich mir normalerweise in einer ruhigeren Ecke einen Platz suche.
Seufzend schiebe ich mich hinter das Lenkrad, lasse meine Stirn darauf sinken und schließe für einige Sekunden die Augen. Ich genieße die Ruhe um mich herum. Wann ich mir das letzte Mal einen Tag Ruhe gegönnt habe weiß ich nicht. Die Uni und das Lernen standen für mich immer im Vordergrund und so wird es auch bleiben, bis ich meinen Abschluss habe. In den letzten Jahren hatte ich nichts anderes, sodass es für mich zur Gewohnheit geworden ist, über den Bücher zu sitzen und zu lernen.
Nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet habe, stecke ich den Schlüssel in das Schloss und starte den Wagen, um nach Hause zu fahren.
Als ich vor dem Wohnheim in eine freie Parklücke biege, denke ich wieder an den Brief, der heute Morgen an meiner Windschutzscheibe geklebt hat. Nachdem Hannah verschwunden war, bin ich noch einmal zu meinem Wagen zurückgegangen und habe ihn in das Handschuhfach gelegt. Nun beuge ich mich vor und hole ihn aus seinem Versteck heraus. Ich drehe ihn in meiner Hand hin und her. Schließlich greife ich nach meiner Büchertasche und lasse ihn hineinfallen. Ein paar Sekunden – vielleicht sind es auch Minuten, ich weiß es nicht – beobachte ich den Eingang zu meinem Wohnhaus und den Bürgersteig davor. Aber ich kann niemanden entdecken, der dort nichts zu suchen hat. Trotzdem beruhigt es mich nicht.
„Na gut, Sofia. Steige aus, du kannst schließlich nicht im Auto schlafen“, flüstere ich vor mich hin und öffne die Tür.
Mit unsicheren Bewegungen verlasse ich das Auto und schließe es hinter mir ab.
So schnell ich kann überquere ich die Straße und gehe auf das Wohnheim zu. Gruppen von Studenten strömen hinaus, andere betreten es. Ich verhalte mich so normal wie möglich, als ich mich unter die Menge mische. Der Lärm der Masse empfängt mich. Alle unterhalten sich angeregt oder schmieden Pläne für den Abend.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend renne ich die Treppe nach oben und den Flur entlang.
Geschickt weiche ich den anderen aus, während ich den passenden Schlüssel an meinem Bund heraussuche. Als ich endlich das Zimmer betrete und meine Tasche mit den schweren Büchern auf das Bett werfe, macht sich Erleichterung in mir breit. Ich streife mir meine Schuhe von den Füßen und lasse sie neben meine Sachen sinken. Dann greife ich mir meinen Laptop vom Schreibtisch und fahre ihn hoch.
Von Sekunde zu Sekunde werde ich immer müder. Verzweifelt versuche ich dagegen anzukämpfen, aber es bringt nichts. Mein Kopf fällt an die Wand und meine Augen schließen sich.
Traurig betrachte ich die anderen Kinder, die von ihren Vätern und Großeltern abgeholt werden. Ich liebe meine Mutter, aber das ändert nichts daran, dass ich mir schon oft gewünscht habe, dass ich auch einen Dad habe, der mich von der Schule abholt.
Mit hängenden Schultern gehe ich auf meine Mutter zu, die in der Nähe des Parkplatzes steht. Der Wind weht ihr durch die blonden Haare, sodass sie aussieht wie ein Engel.
„Hi, mein Schatz. Wie war die Schule?“ Mit einem strahlendem Lächeln begrüßt sie mich und zieht mich für eine Umarmung an sich heran.
Anstatt zu antworten, zucke