Diese Nachricht war ein schwerer Schlag für Pawel.
Ach, zum Teufel, wäre ich doch gleich hingerannt und nicht erst nach Hause gegangen, dachte er verzweifelt. Wie konnte ich das nur verpassen?
Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er drehte sich jäh um, holte mit drei Sprüngen den Jungen ein und riss ihm mit aller Kraft das Gewehr aus den Händen.
»Du hast schon eins - das reicht für dich. Und das hier nehme ich!« erklärte Pawka in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Außer sich über diesen Raub am helllichten Tag, warf sich der Junge auf Pawka. Dieser sprang jedoch einen Schritt zurück und hielt ihm das Bajonett entgegen:
»Weg, oder du wirst aufgespießt!« schrie er.
Der Junge heulte vor Ärger los und lief schimpfend in ohnmächtiger Wut davon. Pawka aber ging befriedigt nach Haus. Er setzte über den Zaun und eilte in den kleinen Schuppen, versteckte das eroberte Gewehr unter einem Dachbalken und ging dann, vergnügt vor sich her pfeifend, ins Haus.
Schön sind die Sommerabende in solchen ukrainischen Städtchen wie Schepetowka, die bis auf einige wenige Straßen im Stadtinnern ganz ländlich anmuten.
An diesen stillen Sommerabenden ist die gesamte Jugend auf der Straße. Die Mädchen und Burschen versammeln sich vor ihren Haustüren, in den Gärten und Vorgärten, oder sie sitzen gruppen- und paarweise auf dem geschichteten Bauholz auf der Straße.
Ringsum Lachen und Gesang.
Die Luft ist erfüllt von berauschendem Blumenduft. Hoch am Himmel flimmern die Sterne, kleinen Leuchtkäfern gleich, und der Klang der Stimme ist weithin vernehmbar .….
Pawkas große Leidenschaft ist seine Ziehharmonika. Liebevoll hält er das klangvolle Instrument mit den zwei Tastenreihen auf den Knien. Die geschmeidigen Finger berühren kaum die Tasten, behänd gleiten sie von oben nach unten. Tief seufzen die Bässe auf, und plötzlich erklingt hellstimmig und übermütig ein Lied …..
Der Balg der Ziehharmonika krümmt und dehnt sich - wer will da nicht tanzen? Das junge Volk hält es kaum auf den Plätzen, die Beine bewegen sich von selbst.
Heute Abend geht es besonders fröhlich zu. Es ist ein lustiges Völkchen, das sich bei den aufgestapelten Balken vor Pawels Haus zusammengefunden hat. Und am lautesten tönt das herzliche Lachen von Galotschka, der Nachbarin. Die Tochter des Steinmetzen liebt Tanz und Gesang sehr. Sie hat eine tiefe Altstimme, weich wie Samt.
Pawel fürchtet sich ein wenig vor der Zunge Galotschkas. Sie setzt sich neben ihn auf die Balken, drückt ihn fest an sich und lacht.
»Ach, du mein unübertrefflicher Musikant! Schade, bist noch ein bisschen zu jung, sonst wärst du gerade der passende Mann für mich. Ich liebe die Harmonikaspieler, das Herz schmilzt mir jedes Mal, wenn ich sie höre.«
Pawel errötete bis an die Haarwurzeln - nur gut, dass man das am Abend nicht sehen kann. Er rückt ab von Galotschka, sie aber hält ihn fest und lässt ihn nicht weg.
»Wohin willst du denn, mein Lieber? Bist ein schöner Freier«, neckt sie ihn.
Pawka fühlt ihre prallen Brüste an seiner Schulter. Eine unerklärliche Unruhe erfüllt sein Herz. Und ringsum erschüttert Gelächter die sonst so ruhige Straße.
Pawka stemmt seine Hand gegen Galotschkas Schulter und sagt: »Stör mich nicht. Rück ein wenig beiseite.«
Und wieder lautes Lachen, Necken und Scherze.
Marussja mischt sich ein:
»Pawka, spiel doch etwas Trauriges, was einem so richtig zu Herzen geht.«
Langsam dehnt sich die Harmonika, langsam gleiten die Finger; eine allen bekannte, von allen geliebte Melodie. Galotschka greift sie als erste auf, nach ihr Marussja und alle anderen.
In der heimischen Hütte,
da versammeln sich die Treidler.
Lieb und schön ist's hier.
Von unserem traurig Los
woll'n ein Lied wir singen.
»Pawka!« Das ist Artjoms Stimme.
Pawel packt die Ziehharmonika zusammen.
»Ich muss jetzt gehen. Artjom ruft mich.«
Marussja bittet:
»Bleib noch ein Weilchen, spiel noch eins. Kommst noch früh genug nach Haus.«
Aber Pawel hat es eilig.
»Nein, morgen ist auch noch ein Tag. Da können wir wieder spielen. Jetzt muss ich gehen.« Und schon eilt er über die Straße und ist im Haus verschwunden.
Er öffnet die Zimmertür und sieht: Am Tisch sitzen Roman, ein Arbeitskollege von Artjom, und noch ein anderer Mann, den er nicht kennt.
»Du hast mich gerufen?« fragt Pawel.
Artjom nickt und sagt dann zu dem Unbekannten:
»Das ist er also, mein Brüderchen.«
Der Fremde streckt Pawel seine schwielige Hand entgegen.
»Hör mal zu, Pawka«, wendet sich Artjom an den Bruder.
»Du hast mir doch gesagt, dass bei euch im Elektrizitätswerk der Monteur krank geworden ist. Erkundige dich morgen, ob sie nicht einen einstellen wollen, der was von der Sache versteht. Wenn sie jemanden brauchen, gib mir sofort Bescheid.«
Der Unbekannte mischt sich ins Gespräch.
»Nein, ich geh lieber mit ihm zusammen hin. Will selbst mit dem Chef reden.«
»Natürlich brauchen wir einen. Das Werk stand doch heute still, weil Stankowitsch krank geworden ist. Unser Chef ist zweimal gegangen, um Ersatz zu finden, aber vergebens. Er wollte nicht riskieren, das Werk mit nur einem Heizer in Gang zu setzen.«
»Na also, dann ist die Sache schon so gut wie gemacht«, sagte der Unbekannte.
»Ich hole dich morgen früh ab und gehe mit dir zusammen hin«, wendet er sich an Pawel.
»Schön.«
Pawels Blick begegnet den ruhigen grauen Augen des Unbekannten, die ihn aufmerksam mustern. Der feste, unverwandte Blick verwirrt Pawel ein wenig. Die von oben bis unten zugeknöpfte graue Jacke spannt etwas über dem breiten Rücken. Schultern und Kopf sind durch einen kräftigen Nacken verbunden, und der ganze Mensch strotzt vor Kraft wie eine alte knorrige Eiche. Beim Abschied sagt Artjom:
»Einstweilen alles Gute, Shuchrai. Morgen gehst du mit meinem Bruder hin und regelst die Sache.«
Die Deutschen marschierten drei Tage nach dem Abzug der Rotgardisten in die Stadt ein. Das Pfeifen der Lokomotive auf dem in den letzten Tagen verwaisten Bahnhof verkündete ihre Ankunft. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht im Städtchen:
»Die Deutschen sind da!«
Und obwohl alle längst wussten, dass die Deutschen kommen würden, glich die Stadt in diesem Augenblick einem aufgescheuchten Ameisenhaufen. Man hatte doch nicht so recht daran glauben wollen. Und jetzt waren sie plötzlich da, diese schrecklichen Deutschen. Sie waren nicht mehr irgendwo im Anmarsch, sondern schon mitten in der Stadt.
Die Einwohner standen alle hinter ihren Gartenzäunen oder an den Pforten. Auf die Straße trauten sie sich nicht hinaus.
Die Deutschen, in ihren dunkelgrünen Uniformen, marschierten mit gefälltem Bajonett zu beiden Seiten der Chaussee, die Mitte frei lassend. Die Bajonette waren breit wie Messer. Auf dem Kopf trugen die Soldaten schwere Stahlhelme und auf dem Rücken mächtige Tornister. In langer, ununterbrochener Reihe marschierten sie vom Bahnhof zur Stadt, stets auf der Hut, jederzeit zur Abwehr bereit, obwohl kein Mensch daran dachte, ihnen Widerstand zu leisten.
Den Gruppen voran marschierten zwei