Mein Freund Jan hat Medizintechnik studiert und entwickelt medizinische Geräte. Eigentlich wollte er gerne Arzt werden und hat nach dem Abitur sofort ein Praktikum in einem Krankenhaus gemacht. Dabei stellte er aber zwei Dinge fest: Erstens: Er bildete sich dauernd ein, diverse Krankheiten, mit denen er gerade zu tun hatte, auch zu bekommen. Ständig hat er nach seinem Dienst in Büchern nachgelesen, worum es bei den verschiedenen Erkrankungen geht und dann sämtliche Anzeichen bei sich selbst beobachtet. Das ist für einen angehenden Arzt sehr unvorteilhaft, andauernd unter den Krankheiten zu leiden, die seine Patienten gerade haben.
Zweitens: Er kann überhaupt kein Blut sehen. Dies zeigte sich bereits, als er eine Stunde in der Ersten Hilfe Dienst hatte und ein Mann mit einer stark blutenden Wunde an der Hand auf ihn zu kam und ihn fragte, wo er sich anmelden müsse. Jan fiel einfach in Ohnmacht, direkt vor dem armen, verletzten Mann, der dann übrigens Jan sehr routiniert in die stabile Seitenlage gebracht und Hilfe geholt hat. Diese zwei Episoden tragen in unserem Freundeskreis immer wieder zur Erheiterung bei, so nach dem Motto »Wenn Jan eine eigene Arztpraxis hätte, wäre die ständig wegen Erkrankung des Herrn Doktors geschlossen … hahaha«. Zum Glück hat ein sehr netter Arzt Jan dann auf die Idee gebracht, Medizintechnik zu studieren, so kann er an der Entwicklung neuer medizinischer Geräte oder Prothesen mitwirken, arbeitet auch wie gewünscht im Gesundheitswesen, muss aber niemanden untersuchen, verbinden oder gar aufschneiden. Der perfekte Job für einen kleinen Hypochonder.
Jedenfalls ist doch ersichtlich, dass ich in den letzten 31 Jahren nichts Großes geleistet habe. Ich habe keine weltverbessernden Erfindungen gemacht, keine Waisenhäuser gebaut, keine Kinder bekommen, nichts Bleibendes erschaffen. Momentan bin ich sehr deprimiert.
Tante Luise streichelt mir über die Wange und nimmt meine Hand. »Kind, was machst du bloß für Sachen. Rennst auf die Straße und lässt dich von einem Auto umfahren. Aber ehrlich, ich bin stolz auf dich, der kleine Junge wäre ohne dein mutiges Eingreifen sicher tot. Seine Mutter erkundigt sich dauernd nach dir, sie macht sich solche Vorwürfe, dass sie ihren Kleinen aus den Augen ließ und du nun dafür büßen musst.« Ach Luise, ich würde so gerne mit dir reden, aber es geht nicht. Ich bekomme meinen Mund nicht auf, kann nicht mal blinzeln oder ihre Hand drücken.
Luise ist die Zwillingsschwester meiner Mutter, allerdings sind sie zweieiige Zwillinge, was man nicht nur sieht, sondern auch merkt, denn die zwei sind sehr verschieden. Gemeinsam haben sie ihr großes Herz, sie können beide zuhören und haben oft gute Ratschläge, wenn man mit Problemen zu ihnen kommt. Meine Tante ist aber viel verrückter als meine Mutter, eine sehr auffällige Frau, die ihr Geld mit dem Schreiben von Groschenromanen verdient. Sie schreibt die Heftchen allerdings unter einem Pseudonym, sehr erfolgreich, doch die meisten ihrer Freundinnen wissen gar nicht, woher sie ihr Einkommen hat. Luise ist groß, kurvenreich, mit langen blonden Haaren, die ihr in Wellen über die Schultern fallen und immer schick im Kostüm gekleidet, was sie aber nie davon abhielt, im Sommer mit mir auf Spielplätzen herumzutollen. Die Frau kann ewig und überall in Pumps herumlaufen. Meine Mutter ist dagegen eher klein, schmal, mit dunklen, ganz glatten Haaren, um die ich sie glühend beneide. Ich habe die komischen Wuschelhaare von meinem Papa geerbt. Ich hasse Regen oder hohe Luftfeuchtigkeit, weil meine Haare sich dann immer total wirr kringeln und ich nie weiß, was sie als Nächstes vorhaben. Bei schönem Wetter kann ich sie sogar zähmen und habe dann wenigstens eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner Mama.
Luise hält meine Hand und seufzt. »Was könnte ich dir denn erzählen? Der nette Arzt meinte, wir sollen viel mit dir reden, du würdest alles hören, aber das ist so schwer, wenn man keine Antwort bekommt. Vielleicht sollte ich dir was vorsingen…« Oh nein, bitte nicht. Luise kann eine Menge, singen gehört allerdings nicht dazu. Sie schafft es, mit einer Karaoke-Einlage eine Bar zu leeren, aber sie will das nicht wahrhaben und ist der Meinung, sie hätte eine schöne Singstimme. Zum Glück entscheidet sie sich anders und redet noch ein wenig mit mir, irgendwann höre ich sie gar nicht mehr, ich bin schon wieder ganz woanders.
2.
Anscheinend ist es Nacht, denn um mich herum scheint es dunkel zu sein. Das Schlimme an meinem Zustand ist, dass ich meine Augen nicht öffnen, mich nicht bewegen kann. Meistens ist alles irgendwie in einem Nebel.
Noch beunruhigender allerdings sind diese erschreckend realistischen Träume. Jedes mal, wenn ich einschlafe, durchlebe ich Ereignisse aus meiner Vergangenheit, aber immer erfahre ich, wie mein Leben sich geändert hätte, wenn ich bzw. jemand in meiner näheren Umgebung damals anders gehandelt hätte. So habe ich in meinem vorletzten »Traum« z.B. festgestellt, dass Mia so oder so meine beste Freundin geworden wäre, auch wenn ich vor 23 Jahren im April NICHT am Dienstag, sondern erst am Donnerstag mit meiner Mama auf den Abenteuerspielplatz gegangen wäre, weil Mia dort eigentlich jeden Tag herumlungerte. Ich konnte mich nur noch sehr dunkel an diesen Tag erinnern, durch meinen Traum wurde er wieder präsent. Damals hatte ich meine Mutter fast zur Weißglut gebracht mit meiner Unentschlossenheit. Der Abenteuerspielplatz war ein wenig weiter von unserem zu Hause entfernt, meine Mutter oder Tante Luise hatten mich damals immer dorthin begleitet. Dieser Spielplatz war für mich etwas besonderes, dort gab es viel mehr Spielmöglichkeiten