Als Lilly schlief. Ivy Bell. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ivy Bell
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738086089
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ausgeweitet, wie das ja manchmal so ist, es wird nicht nur am Geld gespart, sondern auch an lieben Worten, netten Gesten, Streicheleinheiten. Und schon ist die Runde herrlich am herum Philosophieren, aber wie es wirklich gekommen wäre, weiß natürlich keiner.

      Ich habe die Chance bekommen, einige dieser Wege zu gehen. Die Umstände, die dazu führten, waren zwar keineswegs besonders angenehm, aber ich bin sehr dankbar und um eine paar wichtige Erkenntnisse reicher.

      Zunächst mal zu mir, ich bin Anfang Dreißig, Innenarchitektin, kinderlos und lebe mit meinem Freund zusammen. Zumindest war ich das alles bis zu diesem Tag, der mich verändert hat und mir gezeigt hat, was in meinem Leben hätte passieren können, wenn ich andere Entscheidungen getroffen hätte, sei es bewusst oder unbewusst. Seit diesem Tag bin ich immer noch Anfang Dreißig, aber ich hadere nicht mehr so sehr mit meinem Leben und bin viel zufriedener mit mir selbst. Aber der Reihe nach.....

      Irgendetwas schmeckt nach Metall, um mich herum Stimmen, Hektik, grelles Licht. Ein Pochen im Hinterkopf, jemand öffnet mein linkes Auge, leuchtet mit einer Taschenlampe hinein, viel zu hell. Es schmerzt, dann ist alles dunkel…

      Ich komme wieder zu mir und habe keine Ahnung, wo ich bin und was mit mir passiert ist. Da mir meine Umgebung finster erscheint, denke ich, ich bin wohl gestorben. Sehr traurig, ich bin so erschüttert, dass ich weinen möchte, aber das geht nicht so richtig. Ich kann mich kein bisschen bewegen und sehe auch überhaupt nichts. Hoffentlich bin ich nicht blind, das stelle ich mir ganz schrecklich vor. Manchmal stellt man sich mit seinen Freundinnen doch diese Fragen, was wäre schlimmer, blind sein oder taub. Ich fand es immer furchtbarer, nichts mehr sehen zu können, nicht zu wissen, wo ich langgehe, ob mir Hindernisse im Weg liegen, ob jemand hinter mir ins Haus schleicht. Obwohl es auch schrecklich wäre, keine Musik mehr hören zu können, kein Vogelgezwitscher, nie wieder das Rauschen des Regens. Immerhin, denken kann ich noch, das beruhigt mich schon mal. Wenigstens mein Kopf scheint noch zu funktionieren, wenn er nur nicht so schmerzen würde…

      So langsam erinnere ich mich an ein paar Dinge. Da ist ein kleiner Junge, so süß und tapsig, eine junge Frau, die sich mit einer verbitterten älteren Dame streitet. Auf den Jungen achtet keiner, er hat hellblonde Wuschelhaare, ein sonniges, herzförmiges Gesicht mit großen, blauen Augen. Er ist ca. 2 Jahre alt, trägt ein weißes T-Shirt und eine grüne Latzhose und zu meinem Erschrecken geht er zielsicher auf die Straße zu. Die Ampel ist rot, ein Schrei. Mein Schrei? Ich renne auf den Jungen zu, stoße ihn weg und dann spüre ich einen dumpfen Stoß, danach nichts mehr.

      Ich kann die Bilder nicht so recht zuordnen, das Nachdenken fällt mir schwer, macht mich so unendlich müde. Bin ich nun tot oder nicht? Falls ja, wieso fühle ich mich so matt und zerschlagen? Wenn man nun für immer schlafen kann, dürfte man doch gar nicht erschöpft sein. Überhaupt, hieß es nicht, dass man nichts spürt, wenn man nicht mehr lebt? Mir ist aber eindeutig sehr warm. Könnte an der dicken Decke liegen. Das hier scheint allerdings kein Sarg zu sein, es wirkt alles eher wie ein Zimmer.

      Irgendwie fühle ich mich auch so merkwürdig angebunden, irgendwas hängt an meinem linken Arm und über mir piepst etwas.

      Die Müdigkeit wird stärker, meine Augen bekomme ich sowieso nicht richtig auf, um mich herum wird alles schwarz.

      Ich sehe mich als sehr kleines Mädchen, etwa drei Jahre alt. Ich tobe mit meinem Papa durch den Schnee, wir sind ausgelassen und lachen viel. In der Nähe ist ein niedlicher See, auf dem ein paar Leute Schlittschuh laufen, aber an einer Seite ist der See abgesperrt. Die ganze Szene ist surreal, ich kann mich als Dreijährige sehen, aber gleichzeitig spüre ich die Empfindungen, die ich damals hatte. Als würde ich von oben auf die Szenerie schauen und trotzdem mittendrin stecken. Ich kann auch meinen damals sechsjährigen Cousin sehen, den ich heute nur noch »Großmaul-Tom« nenne, damals war er ganz niedlich, das hat sich leider total geändert.

       Mein Onkel taucht ebenfalls auf, ausgelassen tobt er mit uns herum. Plötzlich zwinkert er meinem Papa, seinem Bruder zu und gemeinsam kreisen sie Tom ein, um ihn einzuseifen. Mein d reijähriges Ich ist indes sehr fasziniert von dem rot-weiß glänzenden Absperrband, ich laufe zielsicher darauf zu, schließlich achtet gerade keiner auf mich. Es ist verrückt, ich möchte schreien, meinen Papa rütteln, dass er auf seine kleine Tochter schaut, gleichzeitig sehe ich das Absperrband vor mir, ich renne, rutsche, falle und dann ist um mich herum alles nass und sehr kalt, ein brennender Schmerz in meiner Lunge, dann nichts mehr.

      Das nächste, was ich sehe, sind meine Eltern, verweint, fertig. Sie stehen vor einem Grab, ich kann die Inschrift sehen und erstarre. Es ist mein Grab und ich bin nur drei Jahre alt geworden….

      Plötzlich spüre ich einen Stich und bin anscheinend wieder in der Gegenwart. Das kann doch nicht wahr sein, ich verstehe nichts mehr. Wenn das ein Traum war, dann ein sehr realer. Meine Eltern haben mir von diesem Tag oft erzählt, aber damals bin ich nicht gestorben. Mein Onkel hat mich ins Eis stürzen sehen, ist mit meinem Papa zu mir gerannt und dann sind sie auf dem Bauch zu mir gerobbt und haben mich aus dem Eis gezogen. Sie haben mich dann schnell in ein Restaurant in der Nähe gebracht, dort wurde ich mit Decken warm gerubbelt bis der Krankenwagen kam. Ich lag ein paar Tage im Krankenhaus, aber dann war ich wieder in Ordnung. Warum jetzt dieser Traum, und wieso fühlte sich das so real an, als wäre ich da und es passiert alles wirklich?

      Um mich herum ist Hektik, etwas steckt in meinem Arm und ich höre eine männliche Stimme, die ich nicht kenne. Ich bekomme meine Augen nicht geöffnet, sie sind bleischwer, aber es muss hell sein. Da ich gerade sowieso nichts anderes tun kann, beschließe ich, zunächst mal der Männerstimme zu lauschen.

      »Sie hat mehrere gebrochene Rippen. Das Auto hat sie erwischt, sie wurde über die Fahrbahn geschleudert und schlug mit dem Kopf hart gegen einen Laternenpfahl, soweit wir es bis jetzt beurteilen können, hat sie aber keine schweren Kopfverletzungen.« »Sie ist eben ein Dickschädel, schon immer gewesen. Können Sie uns sagen, wann sie aufwachen wird?« Moment mal, das war meine Tante Luise, was macht die hier? Wenn sie auch hier ist, dann kann ich doch eigentlich nicht tot sein??? Und was quatscht der Typ da von einem Auto??? Dann war das mit dem kleinen Jungen anscheinend real, ich habe ihn wirklich gesehen, wie er über die Straße laufen wollte und bin ihm hinterhergelaufen, ohne auf mich zu achten. Wie es ihm wohl geht? Ich hoffe, er hat nicht so einen Schädel wie ich jetzt gerade.

      »Wir haben bereits eine Computertomografie durchgeführt, um Blutungen im Gehirn ausschließen zu können. Ich hatte zunächst vermutet, dass sie ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma hat und die anhaltende Bewusstlosigkeit daher kommt, aber danach sieht es nicht aus. Wir müssen sie allerdings gut beobachten, um eventuell noch auftretende Blutungen richtig zu behandeln. Sie atmet selbstständig, das ist sehr gut. Ihr linker Arm ist gebrochen, am linken Fuß hat sie überdehnte Bänder, geprellte Rippen und viele blaue Flecken und Schürfwunden. Ihr Körper schützt sich sozusagen selbst, indem er sie in diesen tiefen Schlaf versetzt. Vermutlich hat sie einen starken Schock erlitten.« Luise seufzt. »Kann ich irgendetwas für sie tun?« »Das haben ihre Eltern und ihr Freund vorhin auch schon gefragt. Es tut ihr gut und hilft ihr, wenn Sie da sind, mit ihr reden. Sie wird sich bestimmt bald wieder erholen«.

      Dann hatte ich wohl einen Unfall, anscheinend einen etwas schwereren. Schön, dass meine Eltern und Jan auch schon bei mir waren. Komisch, dass ich davon gar nichts mitbekommen habe.

      Ich bin immer noch so müde und kann mich auf das Gespräch zwischen dem Arzt und meiner Tante nicht richtig konzentrieren. Immerhin weiß ich nun, wo ich bin und was so ungefähr mit mir los ist. Dass ich lebe, ist natürlich schön und erleichtert mich sehr, obwohl, wenn ich so über mein bisheriges Leben nachdenke, was habe ich denn groß geleistet? Hätte mich überhaupt jemand lange vermisst? Gut, meine Eltern mit Sicherheit, und vielleicht auch Jan, aber sonst? Zu mir gibt es doch gar nicht viel zu sagen, Ich heiße Lilly und bin 31 Jahre alt. Vor Kurzem bin ich mit Jan zusammengezogen, und konnte tatsächlich endlich meinen ersten, richtigen Arbeitsvertrag unterschreiben.