Otto Telschow wuchtet die Säcke eigenhändig hinein. Erwin meint, ein leichtes Klirren zu hören. Er verschließt das Loch mit Erde und Steinen und tarnt es mit altem Laub.
»Ich komme wieder, verlass dich drauf!«
Es klingt, als gebe der Oberst sich selbst ein Versprechen.
Sonntag, 3. Oktober (Erntedank)
Der letzte Glockenschlag klingt noch nach, da rollen mir Wogen von Posaunen- und Trompetenklang entgegen. Sie spülen mich in eine der letzten Stuhlreihen, aufgestellt im großen Festzelt auf dem Gelände des Tagungshauses.
»Wohl dem, der einzig schauet nach Jakobs Gott und Teil.« Der Mann hinter mir grölt das alte Kirchenlied, als sänge er »Atemlos« im Chor tausender Fans von Helene Fischer. Hier jedoch haben sich anlässlich des Erntedankfestes nur etwa hundertfünfzig Besucher eingefunden. Zwar ist das große Festzelt gut gefüllt, wegen der Pandemie sind die Stühle jedoch mit Abstand aufgestellt. Die Leute kommen aus mehreren Gemeinden der Region. Die Stimme hinter mir übertönt sie alle.
»Wer dem sich anvertrauet, der hat das beste Teil, das höchste Gut erlesen ...« Ich überlege, ob ich mir einen anderen Platz suche, einen ohne solche Lärmbelästigung.
Maren sitzt vorne. Sie singt im Chor. Jetzt, da auch Singen wieder staatlich erlaubt ist und die Vorschriften trotz steigender Ansteckungszahlen extrem reduziert wurden, können sich auch Chöre und Gruppen wieder treffen. »Ich lebe auf!«, hatte meine Liebste nach der ersten Probe des Singkreises gemeint. »Endlich kommt das Leben zurück!« Ich habe es ihr abgespürt. Nicht nur Maren, wir alle haben im Sommer neue Kraft getankt. Umso erschreckender hatte sich der Schatten einer vierten Corona-Welle über uns aufgebaut. Die Testpflicht und ein als »freiwillig« definierter Impfdruck erwischten viele unerwartet und mitten im Urlaub. Manche mussten in Quarantäne. Fehlendes Personal macht einigen Betrieben zu schaffen. Auch bei uns in der Redaktion muss die Arbeit auf weniger Schultern verteilt werden, weil Kollegen Kontakt mit Infizierten hatten und isoliert werden. Unser Gesundheitsamt versteht da keinen Spaß. Insgesamt jedoch läuft das Leben wieder halbwegs normal bei uns im Norden.
»... den schönsten Schatz geliebt!« Ich muss den Mann, der mich so gnadenlos beschallt, unbedingt sehen. Also drehe ich mich kurz um, grinse ihn freundlich an und nicke ihm zu.
Es ist Rübezahl. Bei unserer ersten Begegnung habe ich ihm wegen seines phänomenalen grauen Rauschebartes und seines geliebten Tirolerhutes mit Gamsbart diesen Spitznamen verpasst. Eigentlich heißt er Walter Hamburger und kommt aus einem Nachbardorf. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Vielleicht war er krank. Jetzt jedenfalls strotzt er vor Kraft zum Lob Gottes. Ein Mann, der seinen Jesus liebt und von ihm redet, wo es nur geht. Ein Traditionalist und Rebell zugleich. Viele der regelmäßigen Kirchgänger um mich herum erlebe ich als bürgerlich angepasst, als schweigend in Glaubensdingen und zwar kirchlich, aber weniger lebendig glaubend geprägt. Bei Rübezahl ist das anders. Er nervt manchmal mit seinen Zwischenrufen und Bekenntnissen – aber jede und jeder nimmt ihm seine Begeisterung für Gott und Jesus sofort ab. »... den schönsten Schatz geliebt!« Das glaubt man ihm.
Die Bläser setzen sich. Einige pusten die Mundstücke ihrer Instrumente trocken. Pastor Werner tritt ans Rednerpult. Es ist inmitten einer prächtigen Blumen-, Obst- und Gemüsedekoration aufgestellt worden. Auch sein wallender schwarzer Talar kann nicht verbergen, dass der Pastor zugelegt hat. Sein Bäffchen sitzt schief. Seine Freundlichkeit und Ausstrahlung sind jedoch wie immer, stimmig und geradeheraus.
»Liebe Schwestern und Brüder aus den Gemeinden unserer Region, liebe Gäste, wir haben wahrlich allen Grund, dieses Erntedankfest zu feiern.«
Er schaut mehrmals in die Runde, sucht Blickkontakt und nickt uns zu. Man hat das Gefühl, persönlich begrüßt zu werden.
»Unser guter Gott hat uns reich beschenkt!« Er weist auf die Blumen und Früchte. »Ich meine auch diese Dinge, all das, was wächst und gedeiht. Ich meine aber viel mehr die Geschichte und die Geschichten unseres Lebens.«
Nun bin ich gespannt. Er wird ja vermutlich nicht die Predigt vorwegnehmen.
»Besonders der Monat Oktober kann für uns ein Zeichen der Güte und Zuwendung Gottes werden.« Ich bin gespannt, warum. »Heute feiern wir nicht nur Erntedank, sondern auch die Deutsche Einheit. Welch ein Geschenk! Wir finden natürlich viele politische Begründungen für den Mauerfall vor inzwischen unglaublichen zweiunddreißig Jahren. Für mich jedoch sind sie allesamt Hinweise auf Gottes unbegrenzte Möglichkeiten. Unser Gott hat unzählige Gebete erhört und handfest eingegriffen. Seiner Macht konnte niemand widerstehen und seine Güte hat Schwestern und Brüder wieder vereint!«
Pastor Werner nimmt einen Schluck Wasser aus dem Glas neben dem Rednerpult. »Der Oktober beginnt also mit dem Gedenken an eine Großtat des schenkenden, gütigen Gottes. Deutschland ist vereint – machen wir also etwas daraus! Und was feiern wir am Ende dieses segensreichen Monats?«
Neben mir sitzen zwei junge Männer, etwa sechzehn, also keine Konfirmanden mehr. Einer flüstert seinem Nachbarn auch für mich hörbar zu: »Den Weltspartag!« Ich muss grinsen. Ja, auch ein guter Kontostand ist so etwas wie eine reiche Ernte, von der man in Freuden leben kann.
Der Pastor beantwortet seine vermutlich eher rhetorisch gemeinte Frage selbst: »Wir feiern am 31. Oktober den Reformationstag. Wieder ein Freudenfest für Christen, jedenfalls für uns evangelische. Erntedank, Wiedervereinigung, Reformation – wenn wir die Tage dazwischen im Sinn dieser Ereignisse gestalten, wird der Oktober ganz gewiss ein Monat werden, der unser Leben reich und glücklich macht. In meiner Predigt wird es gleich genau darum gehen: Wie wird ein Leben reich und glücklich?«
Die Jugendlichen tuscheln wieder. Ich verstehe nur: »Der 31. Oktober, ist das nicht Halloween?« Sie lachen und ziehen Grimassen. Rübezahl stößt sie mit seinem Gehstock an und zeigt ein grimmiges Gesicht.
Ich will mich gerade auch über das Flüstern ärgern, freue mich dann aber. Die beiden haben aufmerksam zugehört. Was will man mehr! Eine Jugend, die zuhört, ist für Kirche und Glaube alles andere als verloren!
Der Gottesdienst gefällt allen, das spürt man. Die Gemeindelieder, der Chor, Posaunen, ein modernes Lied mit Gitarre – fast habe ich vergessen, wie sich ein ansprechender und schöner Gottesdienst anfühlt. Ich war noch nie ein richtiger Insider von Kirche, sondern bin erst vor wenigen Jahren dazugestoßen. Wäre ich nicht den Christen hier in Himmelstal begegnet und wären Maren und ich nicht ein Paar geworden – vermutlich säße ich heute weder hier noch würde ich verstehen, worum es geht. Auch jetzt ist mir manches noch ziemlich fremd. Trotzdem weiß ich jetzt, was mir in der Coronazeit gefehlt hat: Die Gemeinschaft mit Christen, das Singen von Lobliedern und gemeinsame Gebete.
Eine Frau und ein Mann treten ans Mikrofon. Ich kenne sie nur vom Sehen. Sie kommen aus einer Nachbargemeinde. Abwechselnd tragen sie zusammen, wofür sie danken. Woran ich eben dachte, ist auch dabei, aber ihre Liste ist gewissermaßen unendlich. Das Meckern, Problematisieren, Kritisieren und Nörgeln der letzten Monate hat in ihrem vorbereiteten Text nichts mehr zu suchen. Nur die Dankbarkeit. Es wird nicht verschwiegen, was belastet. Klimakrise, Flutkatastrophe, Kriege, Corona, Afghanistan, Flüchtlinge ... all das wird wahrgenommen. Aber in all dem entdecken die beiden den Gott an unserer Seite und formulieren einen großartigen »Psalm« der Dankbarkeit.
Ich muss nachher unbedingt fragen, ob ich den Text bekomme. Vielleicht kann ich ihn mal in einer Samstagsausgabe unterbringen. Wenn mein Chef Florian Heitmann sich im Kollegenkreis auch als Kirchen- und Religionshasser präsentiert – manchmal hat auch er lichte, emotionale Momente und lässt außer Fakten auch Deutungen und Interpretationen der Wirklichkeit zu.
Wie so oft in Gottesdiensten und wortlastigen Veranstaltungen macht sich mein Denken selbstständig. Zwar merke ich, dass inzwischen die Predigt »läuft«, aber ich bin mit meinen Gedanken immer wieder woanders.
Wofür habe ich zu danken? Für Maren, fällt mir zuerst ein, auch wenn wir oft in verschiedenen