Aber sie hatte nichts gesagt. Nur ihr Blick war anklagend und enttäuscht gewesen. Oder traurig? Philip konnte es nicht sagen. Seit Jar’jana im Haus war, benahm Mutter sich eigenartig. Sie hütete die Elbin wie eine Glucke ihre Küken. Es war, als hätte Philip eine unsichtbare Grenze überschritten, als er in ihr Zimmer ging. Als hätte er etwas Verbotenes getan.
Wütend warf er einen Stein ins Wasser. Er fühlte sich alleine im Niemandsland, als säße er zwischen zwei Türen, die ihm ein Luftzug beide vor der Nase zugeschlagen hatte.
Trotzig ließ er sich ins Gras sinken, den Kopf an den rauen Stamm gelehnt. Die Sonne schien warm zwischen den Ästen der Weide hindurch, und der Wind spielte leicht mit ihren langen Zweigen, so dass diese leise rauschten. Er schlief ein.
Als er wieder aufwachte, war bereits später Nachmittag. Philip gähnte und das schlechte Gewissen meldete sich. Weder hatte er die Arbeit erledigt, die der Lehrer ihm aufgetragen hatte, noch hatte er in dem Buch auf dem Speicher gelesen, um etwas über diese geheimnisvolle Stadt im Wald zu erfahren. Er hatte noch nicht einmal Holzspäne für das Feuer gehackt, um die ihn seine Mutter beim Mittagessen gebeten hatte.
Als er in die Küche kam, knetete die Mutter gerade einen großen Klumpen Brotteig. Josua saß auf einem Hocker, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und schaute missmutig drein.
Philip warf seiner Mutter einen kurzen Blick zu. Sie machte ihm ein stummes Zeichen, dass er sich um Josua kümmern sollte. Philip unterdrückte ein Seufzen und setzte sich zu seinem Bruder an den Tisch.
»Was ist los?«, fragte er.
»Nichts.«
»Ihr könntet die Wäsche in dem Korb da hinten waschen«, mischte sich Phine ein. Es war ein Angebot an beide, damit sie in Ruhe miteinander sprechen konnten, das verstand Philip, aber zum Wäschewaschen hatte er heute weder Zeit noch Lust. Ein leises Seufzen entfuhr ihm. Er spürte den Blick seiner Mutter. Diesmal bittend.
»Wäsche waschen ist gut, um auf andere Gedanken zu kommen«, behauptete er.
»Frauenarbeit«, brummte Josua abweisend.
»Ja«, knurrte Philip zurück. »Aber wenn du dir dafür zu fein bist, könntest du auch den Sack Mehl da wieder in den Keller tragen oder Holzspäne hacken.«
Bei dem Versuch Holz zu hacken, hatte Josua sich erst im Frühling einen beachtlichen Schnitt im Schienbein eingehandelt, und den schweren Mehlsack würde er wahrscheinlich nicht einmal aufheben können. Josua seufzte resigniert.
»Das Wasser hier«, die Mutter deutete auf einen großen Topf, »ist für die Wäsche.«
»Glaubst du, dass Vaters Base bei uns bleibt?«, fragte Josua, als sie beide, mit den Armen bis zum Ellbogen im Waschtrog, Säuglingswäsche wuschen.
Philip zuckte mit den Schultern.
»Das wäre gut, weil diese Jana dann Mutter bei der Hausarbeit helfen könnte. Wäsche waschen ist blöd.«
»Zumindest werden die Finger davon richtig sauber«, bemerkte Philip und begutachtete seine aufgeweichten Hände.
»Ich will keine sauberen Hände«, protestierte Josua. »Nur reiche Säcke haben saubere Hände.« Er warf das Hemdchen zurück ins Wasser und fing an zu heulen. »Lennart hat das auch gesagt.«
»Was?«, fragte Philip, aber jetzt verstand er, woher Josuas schlechte Laune kam. Lennarts Vater war Ackerbürger. Seine Familie wohnte zwar in der Stadt, doch sie führten ein Bauernleben. Im Sommer, wenn die meiste Arbeit auf den Feldern war, mussten alle mithelfen. Das bedeutete, dass Lennart ab jetzt nicht mehr zur Schule ging, bis die Ernte eingefahren war, und nachmittags auch keine Zeit mehr zum Spielen hatte.
»Lenart hat gesagt, dass wir reiche Säcke sind.«
»Wie kommt er darauf?«
Josua wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah Philip böse an. »Weil alle bei uns zur Schule gehen, weil wir ein Haus und eine Schmiede haben und weil du schon größer bist als sein Vater und immer noch keine Lehrstelle hast«, zählte er zornig auf. »Warum hast du keine Lehrstelle wie alle anderen?«
Mit dieser Frage aber vor allem diesem vorwurfsvollen Ton hatte Philip nicht gerechnet.
»Ich wollte gerne weiter zur Schule gehen«, sagte er. »Mutter und Vater waren damit einverstanden. Aber darum sind wir doch keine reichen Säcke.« Er rubbelte wild an einer Windel und dachte daran, was für ein Gerede es im Ort geben würde, wenn er in diesem Sommer tatsächlich im Monastirium Wilhelmus mit dem Studium begann. Wie seine Eltern das bezahlen wollten, war ihm ohnehin schleierhaft.
Als er aufblickte, sah er Mutter in der Tür stehen. Sie lächelte.
»Ihr macht das wirklich gut.«
Josua murmelte etwas vor sich hin, erfreut klang er nicht.
»Ich hab ein wenig Zeit. Ich könnte euch etwas erzählen.«
»Eine Geschichte«, brummte Josua ohne jede Begeisterung. Wahrscheinlich wäre es ihm, genau wie Philip, lieber gewesen, die Mutter hätte an ihrer Stelle die Wäsche gewaschen.
Josephine aber setzte sich auf die schmale Holzbank neben der Tür und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.
»Eine wahre Geschichte«, begann sie. »Damit du verstehst, Josua, dass das, was heute unser Wohlstand ist, durch das Leid vieler anderer zustande kam. Die Schmiede, so wie ihr sie kennt, wurde nach dem letzten Krieg erbaut.«
Philip erinnerte sich, dass Theophil in der Schule über diesen Krieg gesprochen hatte. Es war vor etwa hundertfünfzig Jahren der letzte Krieg zwischen Ardelan und Mendeor gewesen. Ardelan hatte dem übermächtigen Nachbarn getrotzt, aber die Verluste waren gewaltig. Corona, einst die Hauptstadt von Ardelan, war vollständig zerstört worden. Nach dem Krieg hatte König Willibald Corona als Königsitz aufgegeben und die Falkenburg errichten lassen. Dadurch war Waldoria vom kleinen Provinzstädtchen zur Hauptstadt geworden.
»Als Waldoria immer größer wurde, musste die alte Stadtmauer abgerissen und eine neue gebaut werden. Dies war die Gelegenheit für euren Urahnen, die Schmiede zu errichten. Er hat sie sich Stein für Stein vom Mund abgespart, in dem Glauben, jedem seiner beiden Söhne durch dieses Opfer zu einem Erbe verholfen zu haben. Doch einer seiner Söhne starb bei einem Unfall. Der andere bekam sieben Kinder, die ihn beerben konnten. Doch dann wütete eine Seuche in der Stadt, die seine Frau und sechs seiner Kinder dahinraffte. So befand sich der gesamte Familienbesitz selbst nach zwei Generationen immer noch in einer Hand.«
Josua hatte aufgehört, die Wäsche zu rubbeln. Seine Hände hingen ins Wasser.
»Es war wie ein Fluch, der über diesem Haus hing. So wie das Haus und die Schmiede von Generation zu Generation weitervererbt wurden, schien auch der Fluch einer hohen Kindersterblichkeit weitervererbt zu werden. Drei Ehefrauen eures Urgroßvaters starben gemeinsam mit ihren Kindern im Kindbett und erst im hohen Alter gebar ihm seine vierte Frau einen Erben, euren Großvater. Doch auch er hatte wenig Glück. Von den fünf Geschwistern eures Vaters erlebten drei ihren ersten Geburtstag nicht. Einer seiner Brüder starb im Alter von zehn Jahren, als er von einem Baum herunterfiel. Einzig seine Schwester, eure Tante Irmtraut aus Mendebrun, lebt heute noch.« Phine seufzte. »Das, was wir heute als Glück oder Wohlstand bezeichnen können, hat eine lange Tradition von Tränen.«
»Und wenn wir auch alle sterben?«, fragte Josua.
»Josua!«, schimpfte Philip, aber Phine lächelte nachsichtig.
»Nein«, sagte sie. »Ihr werdet nicht sterben. Keiner von euch sieben.«
»Sieben?!«, flüsterte Philip, aber seine Mutter antwortete nicht, sondern sah ihn nur mit einem versonnenen Gesichtsausdruck an. Sie ist wieder schwanger, dachte er erschrocken. Noch ein Bruder!
»Aber