Elduria - Dragon der Beschützer. Norbert Wibben. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert Wibben
Издательство: Bookwire
Серия: Elduria
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753185767
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Das traf immer dann zu, wenn sie, wie Moira, wichtige Aufgaben für die Gemeinschaft erfüllten, oder diese geschlechtstypisch sind. Dazu zählte beispielsweise das Legen von Eiern. Die brüteten wiederum beide Elternteile abwechselnd aus. Sobald die jungen Kreaturen geschlüpft waren, wurden sie in Kriegszeiten von älteren oder anderen, nicht mehr für den Kampf geeigneten Mitgliedern der Drachengesellschaft aufgezogen und behütet.

      »Wer Elfen unterstützen will, muss unbedingt fliegen können. Feuerspucken kann jeder Lindwurm, da ist nicht viel dabei. Aber fast so schnell und elegant wie ein Falke in der Luft zu sein, dazu gehört jahrelange Übung. Wenn du nicht endlich damit anfängst, wirst du das nie schaffen. Eine große Wendigkeit ist äußerst wichtig, um geschleuderten Flüchen ausweichen zu können! Eines Tages …« Meist schläft sie an dieser Stelle ein und der Jungdrache lässt sie dann, so wie heute, allein.

      Auf der Plattform vor der Höhle prüft er wie jedes Mal vor und nach dem Unterricht die Tragfähigkeit des Windes. Dragon würde der Lehrerin gern folgen und sich der Luft anvertrauen, und sei es nur, um endlich für seinen Mut gelobt zu werden. Doch dann zögert er immer wieder im letzten Moment. Moira hat ihm auf der großen Schultafel mit Kreide aufgemalt, worauf es beim Flug ankommt. Wichtig ist, gegen den Wind zu starten, da der dabei hilft, schnell in den Himmel hinaufzusteigen. Dazu muss er nicht einmal die Kraft seiner Flügel nutzen. Das hat Dragon schon verstanden, auch ohne die vielen Pfeile, die sie auf die Tafel gezeichnet hat. Gerade jetzt spürt er, wie er fast automatisch nach oben gehoben wird, je nachdem, in welchem Winkel er seine Schwingen dem Wind entgegenhält. Wenn er sich umdreht und der heranbrausenden Luft die Rückseite seiner Flügel zeigt, wird er dagegen zu Boden gedrückt. Diese Erkenntnisse sind seit Jahren tief in seinen Erfahrungen verankert.

      Trotzdem ist er unsicher, wie er es schaffen soll, nach dem Start in die Richtung zu fliegen, die er wünscht. Dabei kann es doch vorkommen, dass er mit dem Wind dahinstürmen muss. Wird er dann nicht abstürzen, herabgedrückt von der Luft?

      Moira vermag ihm leider nicht zu zeigen, dass seine Sorge unbegründet ist. Seit Jahrzehnten wird sie von Gicht und Rheuma geplagt.

      »Gäbe es doch nur einmal einen Tag, an dem ich keine Schmerzen habe. Ich würde dir voller Freude zeigen, dass deine Zweifel unangebracht sind.«

      Diesen Spruch hat er inzwischen ungezählte Male von ihr gehört. Da sie aber, besonders im Schulterbereich und den Fingergelenken ihrer Flügel, von knotigen Entzündungen geplagt wird, verlässt sie den Schulraum nur noch selten. Deswegen bringt er ihr wöchentlich das Essen, wenn er zum Unterricht erscheint. Das besteht aus Bergziegen oder aus Schafen. Manche der Gämsen fängt er selbst, doch die Schafböcke, Muttertiere und Lämmer werden von den wenigen anderen Drachen der Insel gefangen. Dazu verlassen sie das Gebiet der Dracheninsel, was Dragon unmöglich ist, solange er sich zu fliegen weigert.

      Der Drache erinnert sich an die vielen Jahre, in denen er Moira, die einzige Lehrerin des Drachengebietes, mit Nahrung versorgt hat. Er weiß, dass die uralte Drachenfrau nicht unweigerlich dem Tod geweiht ist, sobald er sie verlassen sollte, weil sie dann von anderen Bewohnern der Dracheninsel versorgt wird. Auch wenn die wesentlich älter als der Jungdrache sind, haben sie kein Verlangen, sich in die Angelegenheiten von Menschen und Zauberern auf dem Festland einzumischen. Sie nutzen die Ausflüge in deren Gebiete lediglich zur Nahrungsbeschaffung und achten peinlichst darauf, dabei nicht gesehen zu werden. Dragon zieht es aber aufgrund von Moiras Erzählungen gerade dorthin. Er möchte zu gern ähnliche Taten vollbringen, wie sie die von ihr gepriesenen Helden verrichtet haben. Stattdessen wird er von den anderen Lindwürmern wegen seiner Unfähigkeit zu fliegen verspottet.

      Er weiß, dass das Drachenland eigentlich eine Insel im meist vom Wind gepeitschten Meer ist. Hierher sind alle Vorfahren vor langer Zeit von sogenannten Drachensuchern gebracht worden. Das sind oft Menschen, gelegentlich aber auch Elfen gewesen. Die hatten Drachen sogar in den entlegensten Gebieten auf dem Festland gefunden, deren Vertrauen gewonnen und sie auf die Insel umgesiedelt. Das machten sie deshalb, weil, abgesehen von den mit allen Wesen in Frieden lebenden Elfen, ihnen viele Menschen nicht wohlgesonnen waren. Das trifft aber besonders auf die dunklen Zauberer zu. Auf der Insel hatten die Drachen Ruhe vor selbsternannten Drachentötern und konnten ihr Wissen ungestört an Drachenjunge weitergeben. Als Dank halfen die Kämpfer der Lüfte wiederum in unzähligen Schlachten den Elfen und Menschen gegen die Schwarzmagier.

      In der Entfernung von einigen Flugstunden in Richtung Osten befindet sich das Festland, das in mehrere Königreiche unterteilt ist. Auch das hat ihm Moira beigebracht. Sie berichtete von großen Taten anderer Drachen, die in den fast ewig währenden Kämpfen von Gut gegen Böse mitgewirkt hatten.

      »In vielen Schlachten halfen sie den Königen Eldurias. Deren Herrschaftsbereich liegt der Dracheninsel am nächsten. Aber nicht nur deswegen bekamen die dortigen Menschen unsere Unterstützung. Sie sehen uns nicht als Missgeburten der Hölle an, wie es manche der dunklen Magier tun. Das mag daran liegen, dass wir einen unerschöpflichen Vorrat an Feuer in uns tragen und es auch gegen Feinde einsetzen.« Sie hustete und feiner Rauch kringelte sich aus ihrem großen Mund nach oben zur Höhlendecke. Die Übungen, einen Feuerschwall auf ein beliebiges Ziel zu spucken, hat Dragon zu ihrer vollen Zufriedenheit schnell gelernt.

      Er erinnert sich ausgerechnet heute daran, dass sie einmal mit Kreide das Bild eines Menschen an die Schultafel zeichnete. Dicht daneben malte sie eine kleinere Ausgabe der ihm bisher unbekannten Kreatur. Dann zeigte sie darauf.

      »Das sind ein erwachsener Mensch und dessen Kind, ein Junge. Schau sie dir genau an. Falls du es eines Tages schaffen solltest, vielleicht in einhundert Jahren, wenn ich daran denke, welch geringe Fortschritte du machst … Nun ja. Du musst wissen, diese Wesen können dir gefährlich werden. Sie besitzen Waffen, mit denen sie gegen uns Drachen kämpfen. Das geschieht aus Unwissenheit. Sobald wir mitteilen wollen, dass wir nichts Böses beabsichtigen, geraten sie allein durch den grollenden Klang unserer Stimmen in Panik. Hinzu kommt, dass sie viel kleiner sind, das flößt ihnen zusätzlich Furcht ein. Sie reagieren völlig widersinnig, sollten wir ihnen gegenüberstehen. Sie meinen dann oft, sich nur durch einen Angriff und unseren Tod schützen zu können. Obwohl sie eigentlich Winzlinge sind, die weniger Kraft besitzen, kann dich trotzdem ein Pfeil oder auch ein Schwerthieb töten, wenn er durch die Schuppenpanzerung einzudringen vermag.« Moira überlegte damals offenbar, was sie am besten sagen sollte, um seinen Ehrgeiz zu wecken. »Dieser Junge ist etwa in dem Alter eines Menschen, der deinem an Drachenjahren entspricht. Dieses Menschenkind könnte dir sehr gefährlich werden, weil du vor ihm nicht durch die Luft fliehen könntest!«

      Die Drachenlehrerin hatte ihn in der Vergangenheit mit Versprechungen und auf vielerlei andere Weise zu ködern versucht, dass es für den Jungdrachen an der Zeit sei, nach damals fast fünfzig Jahren endlich das Fliegen zu lernen. Der Vergleich mit einem kleinen Menschen war schließlich erfolgreich, auch wenn er nicht sofort Früchte trug. Das sollte erst gegen Abend und völlig unerwartet geschehen.

      Dragon schließt den Test der Tragfähigkeit der Luft ab, legt die Flughäute eng an den Körper und verlässt die Lehrerin. Sie ist längst wieder in tiefen Schlummer gefallen, was durch lautes Schnarchen verdeutlicht wird. Den ganzen Weg die Bergflanken hinab ins Tal geht ihm die Zeichnung des Jungen nicht mehr aus dem Kopf.

      »Wenn ich doch nur so wäre wie er!«, denkt er andauernd. Am Fuß des Berges kraust er die Stirn. Ihm wird mit zusammengepressten Lippen bewusst, dass das zumindest einen Vorteil hätte, auch wenn er eigentlich gerne ein Drache ist. »In dem Fall würde mich niemand auslachen, nur weil ich nicht fliegen könnte!« Er zuckt mit den Schultern, da das letztlich gar nicht so schlimm ist. Dafür ist er der einzige Jungdrache in seiner kleinen Welt. Die erscheint ihm im nächsten Moment plötzlich verändert. Der Blick auf die Felsen und den vor ihm liegenden Pfad wirkt anders als sonst.

      Dragon ist leicht irritiert, weil er mit den Füßen strauchelt und tatsächlich über einen Felsbrocken stolpert. Er landet mit dem Gesicht in einem Bachlauf und verschluckt sich fast an dem klaren Wasser. Derartiges ist ihm bisher nie passiert. Sollten hier neue Steinbrocken im Weg liegen, die vielleicht durch ein Erdbeben vom Gipfel des Berges herabgeworfen worden sind? Er richtet sich auf, um trotzdem einen Blick dorthinauf zu werfen. Manchmal macht sich Moira einen Spaß daraus, trotz ihrer steifen Gelenke Felsen über die Kante der Plattform zu rollen.