»Puh, das war knapp!«, stellt Dragon erleichtert fest. Er wischt mit einer Handbewegung etwas Schweiß von seiner Stirn.
»Aber nur, weil du völlig untypisch für einen Beschützer, einen Gegner unnötig herausforderst. Dabei wäre es sinnvoll, eine mögliche Auseinandersetzung zu vermeiden.«
»Ich hatte plötzlich wieder vor Augen, wie mich dieser dunkle Zauberer mit Feuerkugeln angriff. Er war dadurch beinahe für unseren Absturz verantwortlich. Das Drachenblut reagiert manchmal unerwartet heiß, Schwesterchen!«
Sein verschmitztes Grinsen und der gesenkte Kopf tragen dazu bei, dass seine Augen wie die eines Hundes in die des Herrchens blicken. Um zusätzlich von seinem Fehlverhalten abzulenken, schiebt er eine Frage hinterher. »Aber was meinte der Magier, als er von einem durchgeführten Test der magischen Fähigkeiten sprach?«
»Ich kann es lediglich vermuten und gehe davon aus, dass er eine Überprüfung unserer Kräfte mit »Aperio« gemacht hat. – Wenn er nicht weiß, dass der von den Hexenmeistern gewobene Mix aus Zaubersprüchen unwirksam gemacht werden kann, wird er deine und meine Gestalt nicht infrage stellen. Ich bin deshalb überzeugt, dass sie trotz der vielen Fragen die erzählte Geschichte vielleicht im Detail, aber ansonsten nicht bezweifeln. Unabhängig davon könnten wir Zauberkräfte haben und womöglich zu Verbündeten der Gesuchten werden. In dem Fall hätte er uns als gefährlich eingestuft und zu überwältigen versucht. Er führte den Test heimlich aus, um uns gegebenenfalls durch einen Überraschungsangriff außer Gefecht setzen zu können. Dass die Täuschung gelungen ist, dafür hat Danryas Rat gesorgt. Unsere magischen Fähigkeiten sind ihm verborgen geblieben.«
»Und das ist gut so«, bestätigt Dragon mit einem Grinsen. Er ist zufrieden, dass sie trotz seines manchmal überschäumenden Temperaments glimpflich davongekommen sind. Außerdem hat er Runa davon abgebracht, ihm weitere Vorhaltungen zu machen. Das allein ist schon viel wert.
»Du solltest die Verbindung zu mir unterbrechen, damit deine Gedanken nicht ungewollt von mir mitgehört werden.«
Das helle Lachen des Mädchens zeigt, dass es seinem Beschützer nicht zürnt. Dragon atmet erleichtert auf.
»Ich versuche, mein Drachenblut besser im Zaum zu halten. Versprochen. – Inhibeo.«
Gefahr!
Die zwei Gefährten haben es vorerst aufgegeben, auf eine Gelegenheit zum Gestaltwandeln zu warten. Sie finden einfach keine Möglichkeit, das unbemerkt durchführen zu können. Sie wollen notgedrungen den heutigen Tag nutzen, einen Eindruck vom Verhalten der Bevölkerung zu bekommen, die auf dem Gebiet der Triqueta in Merion lebt. Spätestens in der Nacht, so hoffen sie, werden sie erneut die Gestalt von Kolkraben annehmen.
Runa und Dragon kennen den direkten Einflussbereich Drakonias lediglich aus Erzählungen, die sie im Wirtshaus »Fuchs und Gans« oder auf dem Markt in Homarket aufgeschnappt haben. Obwohl ihr bisheriger Aufenthaltsort auch in Merion liegt, wird über die weit im Osten liegende Festung Grimgard und die sie umgebenden Gebiete wenig Gutes erzählt.
Fast alle männlichen Jugendlichen werden dort seit Jahren zum Kriegshandwerk herangezogen. In den Gesprächen ist die Rede von mörderischen Ausbildungslagern, in denen die neuen Soldaten für Drakonias Heer durch eine harte Schule gehen. Es wird berichtet, dass zu Übungszwecken scharfe Waffen genutzt werden. Obwohl das vermutlich nicht stimmen wird, denn das vermag sich Runa nicht vorzustellen, wird es so in Homarket behauptet. Der Nachwuchs an ausgebildeten Kämpfern wird gerade in einem militaristisch orientierten Königreich wie Merion nicht leichtfertig durch derartiges Gebaren aufs Spiel gesetzt werden. Auch wenn die Auseinandersetzungen mit dem einverleibten Elduria viele Jahre zurückliegen, wurde die Mannschaftsstärke des Heeres seitdem nicht reduziert. Männliche Einwohner der vereinten Länder, die in Elduria leben oder deren Wurzeln dort liegen, werden allerdings von der Ausbildung im Kriegshandwerk ausgeschlossen. Diese Verordnung hatte die Herrscherin sofort nach der Einverleibung des eroberten Königreiches erlassen. Sie wollte damit möglichen zukünftigen Aufständen vorbeugen.
In den letzten Jahren sieht es danach aus, als ob Drakonia ein neues Ziel ins Auge gefasst hätte. Für eine denkbar erscheinende Auseinandersetzung mit den Nordlanden, so wird gemunkelt, werden mehr Kämpfer als bisher benötigt.
Gerade dorthin haben sich viele Elfen aus anderen Gebieten zurückgezogen. Auch wenn sie friedliebend sind, werden sie ihren letzten Einflussbereich mit allen Kräften verteidigen. Deshalb wurde in Merion vor fünf Jahren der Befehl erlassen, dass die Ausbildung zum Soldaten oberste Bürgerpflicht sei. Bisher wird die Erfüllung dieser Anordnung in den meisten Landesteilen eher lasch gehandhabt, aber nicht so in der Triqueta. Das liegt vermutlich daran, dass Grimgard die Mitte dieser Region bildet, aber gleichermaßen auch an der Ergebenheit der drei Hexenmeister gegenüber Drakonia.
Die Fähigkeiten für die Ausübung vieler Berufe werden üblicherweise innerhalb der Familien weitergegeben. So bleibt es nicht aus, dass Söhne von ihren Vätern bereits von frühester Kindheit an ausgebildet werden. Gleiches gilt für Töchter und ihre Mütter, in deren Belange die Königin bisher durch keine Verordnung eingegriffen hat.
Wenn einer der sogenannten Männerberufe auszusterben droht, der für den Fortbestand des Königreiches wichtig ist, wird einem der Söhne aus der jeweiligen Familie erlaubt, sich darin ausbilden zu lassen.
In der Verordnung wurde eine weitere Ausnahme genannt. Bei den Berufen, die für die Versorgung mit Nahrungsmitteln benötigt werden, das schließt deren Erzeugung, Verarbeitung, Transport und Verkauf mit ein, wird ausdrücklich festgelegt, den jeweils Erstgeborenen im väterlichen Betrieb zu behalten.
In beiden Ausnahmefällen wird der entsprechende Jugendliche vom Dienst an der Waffe befreit. Gibt es in einer dieser Familien mehr als ein Sohn, der eingezogen werden kann, darf anstelle des ersten einer der Nachgeborenen ausgewählt werden. Da die Musterung und Einziehung der geeigneten Jungen alle drei Jahre erfolgt, ist eine Auswahl zwischen dreien der Kinder einer Familie möglich. Das jedoch nur, wenn die Mutter alljährlich einen Sohn bekommen hat. Sollten Zwillinge geboren worden sein, stehen in seltenen Fällen sogar vier zur Wahl, die den väterlichen Betrieb übernehmen könnten. Alle anderen Jungen müssen direkt nach der Musterung zur Soldatenausbildung das bisherige Heim verlassen.
Die getroffene Auswahl wird penibel im Gemeinderegister festgehalten, damit Betrügereien ausgeschlossen werden können. Trotzdem wird gemunkelt, dass einige Söhne gegen Zahlung größerer Geldsummen vom Dienst mit der Waffe befreit worden sein sollen.
In den Fällen, wo bereits der Vater Soldat ist, bleibt jedem Jungen, egal welchen Alters, keine andere Berufswahl offen. Das war schon vor der Neuerung der Kriegsverordnung üblich. Durch die Summe dieser Maßnahmen steigt die Mannschaftsstärke von Drakonias Kriegsheer beständig.
Für Brendan ap Owain stand somit mit seiner Geburt fest, welche berufliche Laufbahn er einschlagen würde. Dass er sie nicht mit dem von vielen anderen Jungen gezeigten Widerwillen ausfüllt, liegt vermutlich am Vorbild des Vaters. Seine Mutter starb, bevor der Knabe fünf Jahre alt geworden war. Seitdem lebt er quasi als Anhängsel des Heerführers und wurde somit auch zu jedem seiner Einsätze mitgenommen. Größere Kämpfe hat er zwar nicht miterlebt, doch bei der Niederschlagung einzelner Aufstände war er dabei. Er durfte sogar sofort nach seiner abgeschlossenen Ausbildung kleinere Einheiten befehligen, wobei er äußerst umsichtig und erfolgreich agierte. Das erfüllte seinen Vater mit unbändigem Stolz. Auch die Königin förderte Brendans Aufstieg mit Wohlwollen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wie herablassend sich der junge Mann anderen Soldaten oder gar dem in seinen Augen gewöhnlichen Volk gegenüber verhält. Er darf seit dem Ende der Ausbildung nur mit Syr und möglichst seinem vollen Namen, also Syr Brendan ap Owain, angesprochen werden. Das entspricht einem Adelstitel, obwohl er weder eigene Güter noch einen Herrschaftsbereich besitzt. Er ist inzwischen siebzehn und gilt somit seit mindestens vier Jahren als erwachsen.
Einiges davon hat Runa bereits