Drachenblut
Für den Rest der Nacht kehren Dragon und Runa nicht in die Scheune zurück. Nach der Anwendung der von Danrya benannten Zaubersprüche sind die magischen Fähigkeiten der Freunde wiederhergestellt. Trotzdem verwandeln sie sich nicht erneut in Kolkraben, jedenfalls nicht sofort. Obwohl die Dämmerung noch fern ist, und sie mit dem schwarzen Gefieder kaum bemerkt werden könnten, befürchten sie, alleine dadurch die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu lenken. Denn weder der Junge noch das Mädchen können sagen, ob diese Vögel in der Nacht unterwegs sind. Sie entscheiden sich deshalb dafür, die Gestalten von Erwachsenen anzunehmen, die sich nach ihrer Ausbildung auf Wanderschaft begeben haben. In manchen Berufen ist das üblich, um weitere Erfahrungen zu sammeln und den Horizont zu erweitern.
Das Aussehen Runas erinnert stark an das von Katie, dem rothaarigen Mitglied der Straßenbande, die das Mädchen vor sieben Jahren an Kaytlin, die Wirtin von »Fuchs und Gans« verkaufen wollte. Dragon ähnelt wiederum Willard, dem Bauern aus Ochsenham. Um sich in eine andere Gestalt zu verwandeln, ist erforderlich, sich diese genau vorstellen zu können. Deshalb ähneln die Freunde den von ihnen gewählten Vorbildern, auch wenn kleinere Veränderungen eingeflossen sind.
Eine Umwandlung in die Rabenvögel erscheint schnell erstrebenswert, da sie als Wanderer viel langsamer vorwärtskommen. Die Sonne strahlt inzwischen vom leuchtend blauen Himmel, und die Landschaft wirkt vom gestrigen Regen wie frisch gewaschen. Nach dreistündiger Wanderung ist der bisher zurückgelegte Weg nicht besonders groß. Doch unerfreulicherweise scheinen die Häuser hier dichter, als anderswo zu stehen. Wo das nicht der Fall ist, begegnen ihnen Bauern mit Fuhrwerken und auch Reiter, oder sie werden von anderen überholt. Dadurch bekommen sie nicht die Gelegenheit, unbemerkt ihre Gestalt zu ändern, selbst wenn sie sich hinter einem Gebüsch verbergen wollten. Hinzu kommt, dass es diesen Bewuchs nur vereinzelt gibt und in den seltenen, unbeobachteten Augenblicken keine Bäume am Wegrand stehen. Notgedrungen wandern sie weiter und hören schon bald Hufgetrappel, das zum wiederholten Mal Reiter ankündigt, die sie gleich überholen werden. Doch die Männer, es sind vier, umringen sie und betrachten sie prüfend.
»Woher des Wegs?«, fragt Gwydion.
»Dragon, wir müssen vorsichtig sein!«, ermahnt ihn Runa gedanklich. Der hat bereits den Mund geöffnet und wendet sich erstaunt, aber augenscheinlich leicht übermütig an den Wachtmeister.
»Das ist doch ohne Mühe zu erkennen.« Zu diesen Worten dreht er sich zur Seite und macht eine Kopfbewegung dorthin, von wo sie gekommen sind.
»Mein Bruder ist nicht ganz klar im Kopf«, versucht Runa sofort seine herausfordernde Antwort abzuschwächen. »Er nimmt Fragen immer wörtlich. Doch ihr wollt sicher wissen, weshalb wir unterwegs sind und wohin unser Weg führt, richtig?« Sie senkt die Augen, schaut keinen der Männer direkt an. Das soll demütig wirken, wie es Bewaffnete von einfachen Leuten erwarten. Der Magier richtet seinen forschenden Blick auf das Mädchen. Wieso kommt es ihm nur so bekannt vor?
»Bist du wahnsinnig, dich derart verdächtig aufzuführen. Denke daran, dass du mein Beschützer bist, der alles tun sollte, damit ich nicht in Gefahr komme«, sendet es an Dragon, jedoch ohne ihn anzuschauen. Das wäre auffällig und könnte den Magier auf ungewollte Gedanken bringen.
»Dich habe ich doch mal in Homarket gesehen«, beginnt der Zauberer langsam, aber drohend. »Wie kommt es, dass du jetzt hier bist? Und wie lautet dein Name?«
»Verzeihung, hoher Herr«, versucht Runa sich einzuschmeicheln. »Ich heiße Katie. Und es stimmt. Vor Wochen war ich in dem Ort, wo ich eine Ausbildung gemacht habe. Sobald die abgeschlossen war, ich bin jetzt übrigens eine geprüfte Gärtnerin, machte ich mich auf, in den verschieden Regionen des Landes nach seltenen Pflanzen oder Kräutern zu suchen. Für deren Transport nutze ich meinen Rucksack. Auch wenn ich bisher nicht besonders erfolgreich gewesen bin, denn ich habe bis jetzt kaum andere Heilkräuter als Beinwell, Spitzwegerich und Löwenzahn gefunden, werde ich weitersuchen. Die wachsen überall, aber einige Mariendisteln und …«
Der Wachtmeister unterbricht unwirsch die Unterhaltung mit dem Magier.
»Im Gegensatz zu deinem Bruder scheinst du ja recht gerne zu reden. Welchen Beruf hat der denn gelernt? Weshalb begleitet er dich?«
»Ich bin ihr Beschützer!«, sprudelt es selbstbewusst aus Dragon heraus.
»Beherrsche dich«, fordert Runa. Das wirkt sofort.
»Ich habe eine Tischlerlehre abgeschlossen und begleite meine Schwester«, fährt der Junge mit bewusst unsicherer Stimme fort. Er hofft, dadurch einen möglichen Verdacht zu zerstreuen.
»Also habt ihr kein bestimmtes Ziel, auf das ihr zusteuert?« Gwydion ist nicht so leicht zu täuschen. Sollten die Wanderer so harmlos sein, wie sie sich geben? Unbewusst glaubt er nicht daran. In früheren Schlachten und bei anderen Aufgaben hat ihn sein guter Instinkt bisher nicht im Stich gelassen. Und richtig, an ein Ereignis mit der Rothaarigen aus Homarket erinnert er sich jetzt auch. Sie hatte sich mit einem Mädchen gezankt, fällt ihm plötzlich ein, welches über ihre Füße gestolpert war und dadurch das gesammelte Geld verstreut hatte. »Du hast in dem Ort gebettelt, wie passt das dazu, dass du eine Ausbildung abgeschlossen haben willst?«
Runa wird es mulmig zumute. Warum hatte sie nur das Aussehen der jungen Streunerin gewählt? »Weil es leichter ist, bei einer Umwandlung eine bekannte Gestalt vor Augen zu haben, als sich eine erdachte vorzustellen. Da kann es schnell passieren, wichtige Einzelheiten zu vergessen. Aber weshalb ausgerechnet Katie?«
Sie legt unbewusst ihre Stirn in Falten, was dem skeptischen Gwydion nicht entgeht. Er betrachtet ihre Mimik aufmerksam, um eine Lüge erkennen zu können.
»Kaytlin war zu alt und Pulmoria einfach zu korpulent«, liefert sich Runa sofort die Begründung, »und das Mädchen hat grüne Augen, die stark leuchten, wenn sie aufgeregt oder wütend ist. Das hat mich schon als Fünfjährige fasziniert.«
»Was? Diese blöde Streunerin hat dich beeindruckt?«, Dragon kann es nicht fassen.
»Nur ihre Augen, vielleicht aber doch noch mehr?« Die Furchen auf ihrer Stirn scheinen sich zu vertiefen, dann antwortet sie Gwydion.
»Das war, weil mein, – ich wollte sagen, unser Vater Hilfe benötigte.«
»Stimmt«, fällt Dragon ein. »Er war aus dem Kirschbaum gefallen und hatte sich ein Bein gebrochen. In seinem Beruf als Schmiedegehilfe konnte er mit den geschienten Knochen mehrere Wochen nicht arbeiten.«
»Und deshalb erbettelte ich Geld für ihn.« Runa führt, erleichtert über den Einfall des Jungen, die Geschichte fort. Ihre Stirn glättet sich, und ihre Anspannung weicht einem Gefühl der Erleichterung.
»Wie passt das dazu, dass ihr jetzt hier herumwandert? Benötigt er eure Hilfe nicht weiter?«
Der Wachtmeister will offenbar nicht so schnell aufgeben. Er misst dem kleinen Versprecher durchaus Bedeutung zu. Etwas an der Erzählung erscheint ihm faul. Das könnte mehr sein, als die angebliche geschwisterliche Beziehung zwischen den beiden.
»Lass sie doch«, fordert jetzt der Magier. »Egal ob ihre Geschichte stimmt, oder nicht. Die Gesuchten sind sie nicht! Wenn wir uns nicht Creulons Unmut zuziehen wollen, sollten wir weiterreiten.« Der Mann wendet bereits sein Pferd und setzt es mit einem Schnalzen der Zunge in Trab.
»Was fällt dir ein?«, poltert Gwydion. »Ich gebe hier die Befehle. Wie willst du wissen, ob das nicht diejenigen sind, hinter denen wir her sind. Deren Erzählung klingt mehr als dünn und auch das Gesicht des jungen Mannes, der vermutlich nicht Katies Bruder ist, kommt mir bekannt vor. – Hey, bleib hier! – Aus der Miene des Jungen spricht reine Aufsässigkeit, und die kann ich nicht durchgehen lassen. Einem Wachtmeister des königlichen Heeres, der gleichzeitig der Vertraute des Heerführers ist, gebührt mehr Respekt.«
»Das ist mir egal«, entgegnet der Magier, der nicht daran denkt, anzuhalten. »Ich habe