Aber auch davor bewahrte ihn sein Sinn für Ordnung, und plötzlich fiel ihm der fröhliche Bauer Tamm ein und gleich wurde ihm leichter. Es war, als ginge ein helles Licht von dieser Fröhlichkeit aus, in seine Brust hinein.
»Er ist gerade der Rechte für mich«, dachte er. »Und um Rat und Hilfe werde ich bei ihm auch nicht vergebens anklopfen.« –
Dann kam er aus dem Kalten ins Warme, aus dem Dunkel ins Licht, über seinem Kopf bimmelte die Türschelle endlos, und gerade vor ihm saß auf der Diele vor einem hochaufgefüllten Teller mit fettglänzendem Gesicht der dicke Bauer Tamm, links die Frau Lowising, rechts der Sohn Maxe.
»Ich bin nicht zu sprechen, ich esse«, rief Tamm und blinzelte mit seinen Äuglein, um den Besucher unter der Tür zu erkennen.
Der stand still.
»Oh, Vadding!« rief die Frau Louise, »das ist ja der alte Herr Professor, der zu Schliekers gegangen ist wegen der Marie. Hütefritz hat uns doch erzählt …« Schon war sie hoch, faßte den alten Mann sanft bei der Hand, zog ihn unter das Lampenlicht und sah ihn besorgt an. Aber wie sie ihn so ansah, der da ganz ergeben und verloren lächelnd dastand, lief ein Lächeln über ihr Gesicht, und sie wollte es verschlucken. Aber es kam wieder und wurde stärker, und es wurde ein Lachen daraus, und jetzt lachten auch schon die beiden Männer, und es war eine ganze Weile weiter nichts zu hören als: »Haha!« und »Hihi!« und »Hoho!« und: »Haltet mich! Haltet mich! Ich darf bei vollem Magen nicht so lachen!«
Doch der alte Lehrer stand in all dem Lachen völlig verloren da, und einen Augenblick grübelte er darüber, ob wohl je in seinem Leben Menschen schon einmal so über ihn gelacht hätten.
Und dann fiel ihm wieder sein stilles Studierzimmer mit der stummen Müllern ein, wo ihm so etwas nie hätte geschehen können … Aber da rief auch schon die Bäurin Tamm ganz erschrocken: »Nein, Herr Professor, es ist ja wohl eine Sünde und Schande, daß wir hier stehen und über solchen feinen Herrn lachen, dumme Menschen, die wir sind. – Willst du jetzt endlich ruhig sein, Maxe! Hol lieber den Spiegel! – Das sieht ja wohl ein jeder, daß Sie keine Ahnung haben, wie Sie ausschauen; und wer Sie so hinterlistig zugerichtet hat, das braucht uns keiner erst zu erzählen. Den Schleicher kennen wir alle hier im Dorf, plattdeutsch und hochdeutsch, Herr Professor. – Und nun weise dem Herrn mal sein Gesicht, Maxe!«
Der Professor blickte in den Spiegel, und da sah er denn, daß er von der Katzenstreichelei und Fütterei sein Teil Kohlenstaub aus dem Schliekerschen Stall abbekommen hatte. Und wenn schon das ganze Gesicht mit Schwarz und Schmuddelig und Grau schlimm genug aussah, um den Mund saß es in noch dickeren Krusten. Hatte ihm schon vorher das Abendessen nicht gutgetan, so wurde ihm jetzt, da er seinen wahren Brotbelag vor Augen hatte, völlig wind und wehe im Leib.
So hat sich wohl noch nie ein geistlicher Professor vom Königlichen Prinz-Joachim-Gymnasium an der Grunewaldstraße zu Berlin-Schöneberg ins Angesicht geschaut; und so tat er’s denn mit aller Gründlichkeit und meinte dazu sachte: »Aber der Herr Schlieker hat dies denn nun doch nicht getan, liebe Frau. Ich habe nämlich die Katze in seinem Kohlenstall gefüttert.«
»O Gott, o Gott!« stöhnte der dicke Tamm auf seinem Sofa. »Ganz wie der schwarze König aus dem Mohrenlande. Und auch so freundlich. Haltet mich! Haltet mich!«
Aber bei ihm war das Halten nicht so notwendig wie bei einem andern, denn plötzlich sagte der Professor ganz kläglich: »Ich möchte Ihnen keine Ungelegenheiten machen. Aber ich glaube, ich falle um.« Und damit sank er auch schon an der starken Frau Lowising hin, und hätte sie nicht schnell den Ohnmächtigen umgefaßt, so wäre er wohl hart auf dem Steinfußboden hingeschlagen.
Sein in der Pfanne aufgebratenes Gänseweißsauer mit Röstkartoffeln, auf das er sich so gefreut hatte, hat der dicke Bauer Tamm an diesem Abend nur mit Unterbrechungen – und kalt – essen können. Denn er hat doch immer nachsehen müssen, ob der Professor Kittguß auch richtig ins Bett gebracht wurde und ob die Ziegelsteine, die sie ihm gegen die kalten, müden Füße legten, nicht zu heiß waren. Und in eigener Person ist er noch in Holztuffeln in die Schenke geschoben und hat mit dem Krüger Otto Beier beratschlagt, was so einem alten Mann wohl zur Stärkung anzubieten und einzuflößen wäre.
Mit einer Flasche schönem altem Rotwein ist er zurückgekehrt, und dann hat er mit seiner Frau in der Küche einen süßen Glühwein gekocht, und sie sprudelten auch noch ein Eigelb hinein. Aber dabei verabredeten sie, daß sie morgen früh den alten Herrn mit dem Stuhlwagen wieder auf die Bahn und nach Hause schicken wollten: Denn »denen hier ist er nicht gewachsen, nicht dem Schlieker und der Marie auch nicht. Und was will er hier überhaupt?! Wenn’s der Behörde recht ist, wie Schliekers es treiben, so wollen wir uns um Gottes willen nicht einmischen. Den Schlieker mag niemand zum Feind, und unserer wäre er gleich, wohnte der alte Mann bei uns.«
Als sie aber mit ihrem Glühwein zum Bewußtlosen zurückkehrten, saß der aufrecht und gerade im Bett und sah sie groß und fremd an. Sie redeten ihm zu, er möge doch trinken und sich wieder hinlegen und gesundschlafen – da bat er nur sanft um seine Bibel aus der Handtasche.
Er bekam sie, aber wenn sich gleich dies Buch der Bücher von selbst bei der Offenbarung Johannis aufschlug: für dieses Mal blätterte der Professor Kittguß weit zurück. Er blätterte durch das ganze Neue Testament und blätterte weiter zurück, bis zu den Psalmen Davids. Und hier las er den 10. Psalm vom Übermut der Feinde, und er las unter anderm: »Herr, warum trittst du so ferne, verbirgst dich zur Zeit der Not? Weil der Gottlose Übermut treibt, muß der Elende leiden … Der Gottlosen Mund ist voll Fluchens, Falschheit und Trugs, seine Zunge richtet Mühe und Arbeit an. Er sitzt und lauert in den Dörfern; er erwürgt die Unschuldigen heimlich … Stehe auf, Herr; Gott, erhebe deine Hand, vergiß der Elenden nicht! …«
Dann sah der Professor Kittguß seine Wirtsleute traurig an, seufzte tief, legte sich auf die Seite und schloß die Augen. Tamms aber schlichen sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und nahmen die Lampe mit fort.
Jawohl, ja, das Licht war fortgenommen, und Professor Kittguß lag allein mit sich im Dunkeln. Er war sehr traurig, sehr mutlos, sehr krank. Das ungewohnte Bett quälte ihn, ungewohnte Gedanken quälten ihn. Gerade vierundzwanzig Stunden und vier war es her, daß der närrische Bote sein geborgenes, weltfernes Heim betreten hatte, und hier lag er, schon am Ende der körperlichen Kräfte, aber auch müde, todmüde in seinem Geist … Und morgen würde er wieder zu Päule Schlieker hingehen müssen, und wieder würde er der Tücke und der Falschheit ausgeliefert sein. Was aber würde er erreichen? Was wollte er erreichen? Was in aller Welt konnte er tun –?
Der Professor warf sich auf die andere Seite, aber eine tröstliche Seite war die auch nicht. Er dachte an Vorladungen, gerichtliche Streitigkeiten, Anwälte gar, an Prozesse hin und her – und nun war es ihm, als stünde er in seinem alten Klassenzimmer auf dem Katheder, und eine seltsame Schülerversammlung hatte er vor sich. Da waren bärtige Gesichter, die ihm bekannt und doch fremd erschienen; da waren aber auch der Hütefritz und der Greis, der nach dem Schinken geklettert war. Da saßen der dicke Bauer Tamm und seine Frau Lowising und der derbe Sohn; und nebeneinander hielten den Finger hoch der Päule Schlieker und sein Weib Mali.
An die Tafel aber hatte der Professor seine Gleichung zur Auflösung der apokalyptischen Zeitläufte geschrieben. Er sah sie an, und sie war richtig. Doch niemanden von all denen, die mit dem Finger zeigten, rief der Professor, sondern er sah angestrengt in den Ofenwinkel. Dort war es dämmrig, aber er meinte doch, eine sanfte Helligkeit zu schauen, und er rief leise: »Rosemarie!«
Langsam ging sie zu ihm aufs Pult, und wieder sah er den unbestimmten Märchenglanz ihrer blaugrauen Augen, und das Herz tat ihm weh.
Aber sie nahm von ihm nicht die Kreide, die er ihr bot zur Lösung der Gleichung, sondern sie nahm den Schwamm aus der Schale, und langsam löschte sie Zahl um Zahl. Wie aber eine Zahl nach der andern verging, war es, als breite