Sandra Kudernatsch
Pralinen unter Palmen
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Inhaltsverzeichnis
27. Februar
„Hände hoch oder ich schieße.“
Das war eine ernst gemeinte Aufforderung, denn ein Revolver war direkt auf meine blasse Stirn gerichtet.
Ich war umzingelt von furchterregend angemalten Indianern, Cowboys in fransigem Leder und diversen maskierten Superhelden, die ein irres Geschrei verursachten. Es war ein kalter Tag und die trockene Heizungsluft stand unangenehm im Zimmer. Staubkörnchen tanzten im schwachen Sonnenlicht, das durch das Fenster zu uns hereindrang.
Meine Situation war ausweglos. Die kleinen Gestalten liefen wild durcheinander und die Geräuschkulisse erinnerte stark an den bevorstehenden Weltuntergang.
„Bitte nicht“, sagte ich mit furchterfüllter, zittriger Stimme und hob wie befohlen brav meine Arme über den Kopf. Dabei blieb ich an meinen drahtverstärkten roten Pippi-Langstrumpf-Zöpfen hängen und fluchte leise. Wieder ein Kratzer mehr.
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich mindestens fünf anmutige Prinzessinnen in langen rosafarbenen, salbeigrünen und azurblauen Gewändern. Dazwischen befand sich ein Frosch. Die Edeldamen flüsterten verschwörerisch hinter vorgehaltenen Händen und zeigten immer wieder auf den Frosch. Irgendwann nahm eine von ihnen all ihren Mut zusammen und trat aus dem Kreis ihrer Freundinnen hervor. Sie spitzte ihre feuerrot angemalten Lippen und kniff ihre heftig geschminkten Augenlider zusammen. Ich hörte den lauten Schmatzer des Kusses, den sie dem Frosch aufdrückte, deutlich – sogar über die Siegesfreude hinsichtlich meiner Gefangennahme hinweg.
„Warum ist er denn immer noch ein Frosch“, fragte die Prinzessin in die Runde und rieb nachdenklich ihr Gesicht. Dabei verschmierte sie erfolgreich ihre Schminke, bis sie aussah wie der Frontmann von Kiss.
Die Beistehenden schwiegen.
„Im Märchen funktioniert das doch jedes Mal.“ Sie drehte sich ratlos mehrmals um ihre eigene Achse. „Du! Küss ihn“, forderte sie dann mit erhobenem Zeigefinger eine andere aus ihren Reihen auf.
Nils blieb jedoch Nils, auch nachdem jede der fünf Prinzessinnen ihm ein Küsschen auf die Wange gehaucht hatte.
Ich lächelte in mich hinein, während mich die Indianer lautstark umtanzten. Ein Wunder, dass ich noch nicht an einen Totempfahl gefesselt war. Ach nein, wir hatten ja gar keinen. Zum Glück.
Aber nun von vorn.
Nein, ich nahm keine Halluzinogene. Ich war auch keine Prinzessin, die in einer Traumwelt voller Märchengestalten, dem Guten und Bösen, dem Schönen und Biestigen lebte. Das war mein Alltag – obwohl heute, genau genommen, ein besonderer Tag war. Wir feierten Fasching bei uns im Kindergarten und alle waren noch ausgelassener und fröhlicher als sonst. Meine liebe Kollegin Eva und ich hatten unsere Mühe, die Kinder zum Schlafen hinzulegen und danach ruhig zu halten.
„Selbst wenn ihr nicht schlaft, macht wenigstens die Augen zu und ruht“, rief Eva nach einer Weile und schmiss verzweifelt die Arme in die Luft. „Manchmal frage ich mich, warum ich nicht einfach Briefträgerin geworden bin.“ Sie ließ sich theatralisch in den nächstbesten Stuhl sinken.
„Du möchtest also bei Wind und Wetter in die Pedale treten“, erkundigte ich mich schmunzelnd, während ich einem murrenden Mädchen den Pyjama überstreifte. „Den ganzen Tag ohne Toilette auskommen und dich mit großen Hunden anlegen, die dich nicht auf ihren Hof lassen wollen?“
Eva rollte mit den Augen, weil ich einen Nerv getroffen hatte.
Dann kam der kleine Frosch Nils zu ihr herüber gehüpft.
„Ich will mich nicht umziehen“, jammerte Nils. „Ich will im Kostüm schlafen.“ Er stapfte mit seinem Plüschschuh auf den Boden vor Eva, stemmte die Hände in die Hüften und sah dabei unglaublich niedlich aus. Bis er leider von den anderen Kindern begeistert in seinem Wunsch unterstützt wurde.
Eva erhob sich mühsam aus dem Stuhl und hockte sich vor Nils auf den Boden, sodass die beiden auf Augenhöhe waren.
„Willst du wirklich auf deinen Spiderman-Schlafanzug verzichten“, fragte sie ihn mit nach oben gezogenen Brauen.
Der kleine Junge überlegte fieberhaft.
„Nein“, sagte er schließlich und begann, sich flink und noch an Ort und Stelle zu entkleiden.
„Das ging ja einfach“, formte Eva lautlos mit den Lippen in meine Richtung.
Glücklicherweise orientierten sich die anderen Kinder erneut an Nils‘ Wunsch und ließen sich bereitwillig in ihre Schlafanzüge stecken.
Keine zehn Minuten später lagen die Kleinen endlich in ihren Betten – jedoch putzmunter, flüsternd und zappelnd. In dreißig Jahren würden sie anders denken und den täglichen Mittagschlaf als puren Luxus schätzen