Die goldene Tafel war ein Altar, dessen Herkunft auf Heinrich den Löwen, der ihn aus Palästina mitgebracht habe, auf Karl den Großen, auf Hermann Billung, auf Kaiser Otto II. zurückgeführt worden ist, der ihn aus arabischer Beute habe anfertigen lassen. Seine Rückwand bildete eine große, in Goldblech getriebene figürliche Darstellung der heiligen Geschichte und war überreich mit Rubinen und Smaragden bedeckt. Dazu gehörten einige mit Reliquien und Kostbarkeiten gefüllte Fächer, worunter sich ein silbernes Fläschchen mit Milch der heiligen Jungfrau, der Beutel Judae mir den Silberlingen und ein Nadelkissen der Maria befand, ferner prächtige Kreuze, edelsteinbesetzte Bücher und Monstranzen. Im Jahr 1698 wurde diese Kostbarkeit durch eine Diebesbande gestohlen. Führer der Bande war ein kluger, begabter Mann, Nikolaus List, Sohn eines sächsischen Tagelöhners. Er hatte im Dienst des Kurfürsten von Brandenburg die Schlacht bei Fehrbellin mitgemacht und in Ungarn gegen die Türken gekämpft; heimgekehrt ließ er sich als Gastwirt nieder, studierte nebenbei den Parazelsus und kurierte Kranke, weshalb er der Doktor genannt wurde. Spitzbuben, die in seiner Wirtschaft verkehrten, verleiteten ihn zur Teilnahme an einem großen Diebstahl, der gut gelang, worauf er den Plan fasste, es in diesem Geschäft zu möglichst großer Vollkommenheit zu bringen. Er lernte vorzüglich gute Wachsabdrücke von Schlössern und Schlüsseln zu machen und schwang sich durch diese Kunst und ein gewiegtes Auftreten zum Haupt einer geübten Gaunergesellschaft auf. Er pflegte als Herr Heinrich Rudolf von der Mosel mit Allongeperücke, Samtmantel und Reitstiefeln aufzutreten, ohne dass er jemals Verdacht erregt hätte; seine verkleideten Spießgesellen bildeten seine Dienerschaft. Nachdem sie in der Katharinenkirche in Braunschweig einen schwierigen Diebstahl glücklich ausgeführt harren, begaben sie sich, um die goldene Tafel zu rauben, nach Lüneburg, wo einer von der Bande, ein Hamburger Schiffer, beheimatet war. Zwar glückte das Unternehmen; aber es gelang auch ziemlich rasch, der durch ihre Erfolge sichergewordenen Diebe habhaft zu werden, worauf sie teils gerädert, teils geköpft und gehängt wurden.
Der Riss zwischen den Regierenden und der Bürgerschaft, die einst eine starke Einheit gebildet hatten, schloss sich nicht mehr. Was schon einmal zum Unheil geführt hatte, dass einer aus den Geschlechtern sich an die Spitze der Unzufriedenen stellte, wiederholte sich im 17. Jahrhundert einmal durch Franz Töbing, ein anderes Mal durch einen aus der Buchdruckerfamilie Stern. Die Gegner des Rats pflegten mit den Herzögen gemeinsame Sache zu machen; diese beiden, die unteren Volksklassen und das Fürstentum lösten miteinander das patrizische Regiment auf. Hat einmal der Abstieg begonnen, drängt alles in die abschüssige Richtung. Verschiedene äußere Umstände verdarben den Wohlstand. Im Jahr 1569 wurde die Elbschifffahrt dem Handel freigegeben, wodurch die Ilmenau entwertet wurde; neue Salinen traten in Wettbewerb mit dem Lüneburger Salz, die Hanse sank durch den Aufschwung der Holländer, der Verkehr ging durch andere Straßen. Während sich die Einkünfte verringerten, musste man von den Herzögen, deren zentralistische Neigung stetig zunahm, die Erneuerung der alten Freiheiten teuer erkaufen. Herzog Georg benutzte die Verwirrung und Verarmung des Dreißigjährigen Krieges, um im Bund mit der Bürgerschaft die Patrizier aus dem lange so rühmlich geführten Regiment zu verdrängen. Die alten Familien jedoch erlebten den Untergang der Republik nicht: die stolzen und ehrliebenden Geschlechter, die sich zwischen Fürst und Gemeinheit zu behaupten gewusst hatten, neigten sich, da sie eben ihre Blüte und die Blüte der Stadt erreicht hatten, dem Ende zu. Im 16. Jahrhundert starben die Garlop, die van der Molen, die Schellepeper, die Schneverdinge und Viskule aus, im 17. die Düsterhop, Schomaker und endlich die v. Tzerstede, die Stöterogge, die v. Töbing und v. Laffert. Das Schwinden der persönlichen Kraft, die ein Staatswesen aufgebaut und lange erhalten hatte, bedeutete hier wie anderswo das Schwinden einer Epoche.
Lüneburg um 1598
Die äußere Erscheinung der Stadt überdauerte das innere Leben bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Nach dem Siebenjährigen Krieg, der das Ungenügende der alten Befestigung dargetan hatte, wurde sie niedergelegt. Zuerst wurde das Altenbrücker Tor abgerissen, durch welches die armen Sünder entweder auf den Köppelberg, wo mit dem Schwert gerichtet wurde, oder auf den Galgenberg, wo der steinerne Galgen stand, geführt wurden. Dann fiel das Lüner Tor, die Löwenkuhle, das Bardowiker Tor, die starke Papenmütze; der Grahlturm, wo der Bürgermeister Springintgut gefangen gelegen hatte, war schon im Dreißigjährigen Krieg abgetragen. Im 19. Jahrhundert verschwanden die Marienkirche, die Lambertikirche und das 1506 gestiftete Haus der Barmherzigkeit im Grahl. Und doch hat die trotzige, phantastische Stadt in der Heide viel von ihrer fremdartigen Schönheit bewahrt. Ihrer Mauern beraubt, gleicht sie einem Ritter, der den Harnisch ablegen musste, aber dessen Haltung und dessen Gang man immer anmerkt, dass er gerüstet war und dass metallisches Klirren seine Schritte begleitete. Die Häuser mit den gestuften Backsteingiebeln stehen da wie versteinerte Schilde, die unerschütterlich ein anvertrautes Leben hüten, das längst verronnen ist. Zugleich aber hat die Stadt etwas niedersächsisch Behagliches, Träumerisches und verrät sich als Teil der Heide, wo unter der Sonne violettes Kraut Würze aushaucht.
Foto: Wladyslaw
Der Turm der Johanniskirche, die den Sand beschirmt und beherrscht, erinnert an jene hohen Wachholder draußen, die seit unvordenklichen Zeiten mit dem Sturm kämpfen.
Ihr Gewölbe, das hochgereckte Backsteinpfeiler tragen, füllt eine ruhmwürdige, durch ein barockes Gehäuse verkleidete Orgel, an der ein Lehrer Bachs, Georg Hahn, Organist war, mit gewitterndem Wohllaut. Am Sande, einer großartigen Anlage, halb Straße, halb Platz, stehen eins ans andere gereiht, prächtige Giebelhäuser, die der flutenden Zeit getrotzt haben, mit ausgedehnten Hintergebäuden und Stallungen; denn dort war, als der Speditionshandel blühte, der Sitz der Herbergierer.
Am Sande – Foto: Michael J. Zirbes
Dort befindet sich auch die im Jahre 1614 gegründete, durch ihre Bibelausgaben berühmte Sternsche Buchdruckerei, von allen Buchdruckereien Deutschlands, die im Besitz derselben Familie geblieben sind, die älteste. An der Grenze des Johanniskirchhofs und des Sandes lag einst ein kleines Haus, wo man den zum Tode Verurteilten auf ihrem letzten Gange einen Labetrunk reichte. Unweit der Kirche steht, auserlesen im Schmuck verschieden geformter Fenster, das Kalandshaus, für eine vornehme, geistlich-weltliche Bruderschaft erbaut. Die Papenstraße, die an das verschollene Kloster Heiligental erinnert, führt zur alten Gottestreu Zum roten Hahn, einem malerischen Beieinander traulicher kleiner Häuser mit roten Ziegeldächern, die zur Aufnahme armer Leute gestiftet waren. Unter dem breitfüßigen Abtswasserkunstturm hindurch betritt man ein Zauberland: da steht dem Kaufhaus mit der vornehmen Barockfront und dem Zwiebeltürmchen gegenüber der im Jahr 1346 erbaute, vielfach restaurierte Kran, ein wunderlicher Alraun mit langer, grünpatinierter Nase, auf einer Seite von grauen Weiden umhangen, die tief in das vorüberfließende Wasser der Ilmenau tauchen. Dort am Wasser sind auch die Häuser, die das Geschlecht der Viskule bewohnte, welches Jahrhunderte hindurch die stolze Geschichte Lüneburgs leitete.
Den Mittelpunkt Lüneburgs bildet das Rathaus, ein Haus der Häuser, dem Bedürfnis der Zeiten gemäß entstanden.