Joleen bleibt stehen und blickt mich an.
„Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist. In den letzten Jahren ist einfach zu viel passiert.“
„Und? Ihr habt gut zusammengepasst und ehrlich gesagt habe ich nie ganz verstanden, warum du dich von ihm getrennt hast.“
Bei ihrem Vorwurf überkommt mich das schlechte Gewissen.
„Wir hatten keine Chance, die haben wir noch immer nicht“, werfe ich ein. „Heather hatte es damals schon auf mich abgesehen und deswegen mussten wir unsere Beziehung geheim halten.“
Joleen lässt sich meine Worte durch den Kopf gehen. Nachdenklich schaut sich mich an.
„Du liebst ihn noch immer! Deswegen warst du so schnell über die Trennung von Cole hinweg. Ich wusste es! In Wirklichkeit hast du die letzten Jahre einen anderen Mann geliebt.“
„Es ist wahrscheinlich keine gute Idee, wenn ich mich mit ihm treffen.“
„Das ist sogar eine wunderbare Idee. Du musst das machen. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass du mit Cole nicht so glücklich bist, wie du es mit Sean warst. Und vergiss seine Schwester. Du solltest dein Glück nicht von ihr abhängig machen.“
Für kurze Zeit lasse ich mir ihre Worte durch den Kopf gehen. Ich bin hin- und hergerissen. Aber im Endeffekt muss ich ihr recht geben. Cole hat mich nicht einmal ansatzweise so glücklich gemacht, wie Sean.
„Ich werde mich heute Abend mit Sean treffen, aber ihn danach nie wiedersehen. Und nun muss ich zur Arbeit. Meine Schicht beginnt gleich“, gebe ich schließlich nach.
„Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Spaß. Und sag mir Bescheid, wie es gelaufen ist.“
„Werde ich machen“, verspreche ich ihr, obwohl ich es eigentlich gar nicht will.
„Denk nicht daran, dass Heather seine Schwester ist, sondern hab einfach Spaß. Würde er keine Gefühle mehr für dich haben, hätte er dich nicht gefragt.“
Joleen zwinkert mir aufmunternd zu, ehe sie sich umdreht und zu ihrem Wagen geht. Ich schaue ihr hinterher, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwunden ist.
Sie meint es nur gut und dafür liebe ich sie noch mehr.
2
Ich arbeite in einer großen Eisdiele, die schon seit Generationen im Besitz unserer Nachbarn ist. Ihre Familie hat mit einem kleinen Betrieb angefangen und sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter vergrößert. Mittlerweile stellen sie das Eis sogar in ihrer eigenen Fabrik her.
Der Laden ist immer voll. Doch als ich nun um die Ecke biege, erkenne ich, dass sich die Schlange heute bereits draußen auf der Straße befindet. Seufzend straffe ich meine Schultern und betrete das Geschäft.
Ich werde von den lauten Unterhaltungen der Kundschaft empfangen. Rechts von mir stehen verschieden große Tische und links befindet sich die Eistheke. Hinter ihr verläuft ein Spiegel von oben nach unten und von rechts nach links. Überall an den Wänden hängen Bilder der verschiedenen Eisbecher, von denen einer leckerer aussieht als der andere.
„Lindsay! Zum Glück bist du da. Ich hatte schon die Befürchtung, dass du gar nicht mehr kommst.“
Lionel, einer meiner Kollegen winkt mir aufgeregt zu, als ich mir einen Weg durch die Menge bahne.
Lionel ist so alt wie ich. Er ist gut gebaut, was seine Kleidung noch unterstreicht. Man sieht ihn immer in engen Hosen, die seinen knackigen Hintern perfekt zur Geltung bringen. Außerdem trägt er meistens enge Shirts, durch die man seine Muskeln vor Augen hat. Am Anfang hatte ich mich noch darüber gewundert, wieso er den Annäherungsversuchen der Frauen ausweicht. Bis mir irgendwann klar wurde, dass Lionel schwul ist.
Als ich nun vor ihm zum Stehen komme, werfe ich einen prüfenden Blick auf die große Uhr, die hinter ihm an der Wand hängt.
„Du weißt aber schon, dass meine Schicht erst in ein paar Minuten beginnt, oder?“
„Trotzdem hoffe ich, dass du mir gleich helfen wirst.“
Mit diesen Worten nickt er in die Richtung der wartenden Menge hinter mir. Während ich an ihm vorbeigehe, um meine Tasche in den Aufenthaltsraum zu bringen, lache ich leise. Er ist jedes Mal überfordert, sodass ich mich schon oft gefragt habe, wieso er überhaupt noch alleine im Laden bedienen darf.
Im Nebenzimmer werfe ich meine Tasche auf den Tisch und schnappe mir meine Schürze.
Während der nächsten drei Stunden kümmere ich mich um die Kunden und habe deswegen keine Zeit, an das bevorstehende Treffen mit Sean zu denken. Meine Arbeit lenkt mich ab, sodass mich der große Andrang nicht stört. Erst, als ich mich in der Pause auf einen Stuhl sinken lasse, denke ich wieder an den Zusammenstoß.
Als ich mich damals von Sean getrennt habe, dachte ich, dass ich ihn nie wiedersehen werde. Ich wollte den Mann, den ich geliebt habe, aus meinem Leben verbannen, und das nur, weil ich Angst davor hatte, dass er mich betrügt. Jetzt weiß ich, wie lächerlich sich das eigentlich anhört. Ich habe immer gewusst, dass er das niemals machen würde. Denn obwohl nicht viele von unserer Beziehung wussten, hat er nie den geringsten Zweifel daran gelassen, dass er mich liebt.
Gedankenverloren ziehe ich meine Tasche zu mir und greife nach dem Handy, um Sean eine kurze Nachricht zu schreiben. Dabei habe ich ein wenig die Hoffnung, dass er das Treffen vielleicht absagt. Es dauert nicht lange, bis das Display blinkt und mir eine neue Nachricht anzeigt.
Ich freue mich schon auf dich.
Sean
Noch während ich die Worte lese, beginnt mein Herz schneller zu schlagen.
Nur ein Treffen, mehr nicht, ermahne ich mich selbst. Dabei weiß ich, dass dies gar nicht in meiner Hand liegt.
Kurz überlege ich, ob ich etwas zurückschreiben soll, aber sosehr ich es auch versuche, mir fällt einfach nichts Gescheites ein. Dabei habe ich so viele Dinge im Kopf, die ich ihm sagen möchte.
Ich bin froh, dass die restlichen Stunden meiner Schicht genauso schnell vorbeigehen. Um sechs Uhr trete ich auf die Straße und atme tief durch. Die Arbeit hat mir dabei geholfen, mir die Zeit zu vertreiben, ohne viel grübeln zu müssen. Allerdings habe ich nun immer noch zwei Stunden, um vor Aufregung wahnsinnig zu werden.
Als ich endlich zu Hause ankomme, bin ich fix und fertig mit den Nerven. Glücklich darüber, dass ich daheim niemandem über den Weg laufe, betrete ich mein Reich und lasse mich auf das Bett fallen. Mein Zimmer ist so klein, dass gerade mal das große Bett, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank und ein Regal hineinpassen. Aber das hat mich noch nie gestört. Ich habe mir immer gesagt, dass ich so weniger aufzuräumen habe.
An den Wänden hängen ein paar Filmplakate und Autogramme von Schauspielern, denen ich während meiner Aufenthalte in Los Angeles über den Weg gelaufen bin.
Wenige Minuten später klopft es aber an meiner Tür, sodass ich seufzend meinen Kopf hebe.
„Ja?“
Mein Bruder steckt seinen Kopf zur Tür herein. Es dauert ein wenig, aber schließlich schiebt er auch den Rest seines Körpers in mein Zimmer.
Mike ist drei Köpfe größer als ich. Er liebt es zu trainieren, und das sieht man ihm auch an. Er hat ein breites Kreuz, und jeder Zentimeter seines Körpers besteht aus Muskeln. Auf seinem kompletten Brustkorb, am Rücken und auf dem größten Teil seiner Arme befinden Tattoos. Seine braunen Haare sind etwas länger, sodass er sie fast zu einem Zopf zusammenbinden kann. Ich muss zugeben, dass er mit seiner dunklen Sonnenbrille fast schon ein wenig brutal aussieht.
„Na, Schwesterherz. Tauchst du auch endlich mal auf?“
„Ich musste arbeiten“, gebe ich knapp zurück, da ich mit meinen Gedanken schon bei der Verabredung bin.