„Es war keine Krankheit, oder?“, fragte der Zwerg nach einer langen Pause. Sein schlechtes Gewissen war deutlich herauszuhören, genauso, wie auch zu hören war, dass er mit dem Mann mitfühlte. Obwohl er in diesem Gefängnis seinen Tod finden sollte, so schmerzte ihn doch mehr die Vorstellung, was dieser Mann durchgemacht hatte, dass dieser all seine Hoffnung und Wünsche aufgegeben hatte.
Obwohl dem Handwerker nicht klar war, warum er sich einem Zwerg anvertrauen sollte, tat er es. Irgendwie schien ihm dieser Zwerg auf einmal menschlicher als alle Menschen, von denen er in letzter Zeit umgeben war. Er konnte es dem Zwerg nicht einmal übelnehmen, dass er seine Neugierde auslebte. Irgendwie – trotz dieser direkten Fragen – überwog das Gefühl, dass es dem Zwerg nicht darum ging, alles zu wissen, sondern es zu verstehen. Er hörte, dass der Zwerg sich wirklich sorgte – so seltsam dies selbst in seinen Gedanken klang.
„Die Krankheit der Menschen“, wiederholte er, was er schon gesagt hatte. „Macht und Gier. Auch wenn ich bis heute nicht weiß, warum man meine Tochter töten wollte. Sie haben es einfach getan. Jene, die schreien, dass sie für unsere Freiheit kämpfen. Aber die will ich nicht, nicht für diesen Preis!“
„Wer hat sie getötet?“ Der Zwerg schuf einen seltsamen Bann, in dem Tibur endlich aussprechen sollte, was so schwer auf ihm lastete. Er war sich deutlich bewusst, dass es seit Menschengedenken kein so tiefes und von der Geschichte ihrer Völker unbelastetes Gespräch zwischen einem Menschen und einem Zwerg gegeben hatte. Doch es gab etwas, was sie verband. Es war eine Reise. Der Mensch war offensichtlich durch die Hölle geschritten und nun in einer endlosen Leere gefangen. Der Zwerg seinerseits sollte schon bald seine letzte Reise antreten. Zu verlieren hatten beide nicht mehr viel. Auch hoffen taten sie nicht. Beide nicht – auch wenn der Zwerg seinem menschlichen Gegenüber genau dies vorwarf – denn der Zwerg hatte schon seit Tagen sein Schicksal völlig verdrängt. Ohne dass der trauernde Mann dies bemerken konnte, hatte der Zwerg Tibur genau beobachtet – von der Stunde an, da dieser mit seiner Arbeit begann, bis dass er wieder in seine Grotte über ihnen verschwand.
„Die Soldaten“, antwortete der Mann kurz, als wäre es selbstverständlich und entschwand gleich wieder in seine tiefen Gedanken.
„Aber warum?“, konnte und wollte der Zwerg es nicht verstehen.
„Es heißt es gäbe für alles einen Grund. Aber den dafür kann ich nicht finden.“ Der Mann fuhr sich mit zitternden Händen durch sein auf einmal noch älter wirkendes Gesicht. „Einfach tot.“ Wieder sprach er wie zu sich selbst. „Sie haben sie einfach umgebracht. Ohne Grund. Ohne eine Erklärung abzugeben.“ Wieder und wieder spielten sich in seinem Kopf die finsteren Tage ab. „Ich bin nach Hause gekommen. Und da lagen sie. Alle beide. Tot.“ Er vergrub sein Gesicht in seinen sehnigen Händen, als wollte er seine Tränen verbergen – doch es kamen keine. Sie hatten seinen Körper bereits alle verlassen – er war leer. Ohne Hoffnung, ohne Tränen. Nicht einmal Wut erfüllte ihn. Nur eine tiefe Trauer, die ihn daran hinderte, aus seinem Leben auszubrechen. Er war im Körper aus einem anderen Leben gefangen. Wie ein Geist, der seinen Tod vergessen hatte, wanderte er umher, machte seine Arbeit, aß und trank, doch leben tat er nicht mehr. Alles was ihn noch in dieser Welt festhielt, war der Wille, die Erinnerung an seine Tochter – sein ganzer Stolz – und an seine über alles geliebte Frau zu wahren.
Er war zu einer lebenden Erinnerung geworden – ebenso, wie seine Steine. Und genauso fühlte er sich auch. Kalt und schwer.
„Aber weiß euer König nichts davon? Warum unternimmt er nichts?“ Ehrliche Verwunderung erschütterte Almar.
Tibur, der seinen Meißel festhielt als wäre dieser alles, was er noch hatte, lachte dunkel auf und ein Schauer durchfuhr den Zwerg. Nicht weil er Angst bekam, sondern weil er den Schmerz fühlte. Beinahe hoffte er, er wäre nun auf der Folterbank. Dort wusste er, dass jeder Schmerz irgendwann ein Ende haben würde. Aber jenen einen, den er in der Stimme des eigentlich Fremden vernahm, hatte etwas Unvergängliches an sich haften.
„Der ist der Schlimmste von allen!“ Seine Stimme wollte ihm den Dienst verweigern.
„Aber dient ihr nicht alle eurem König? Ihr kämpft für ihn und schwört ihm Eide.“ Die Verwunderung ließ Almar nicht los. Er konnte nicht begreifen, was hier vor sich ging. Er kannte seine Königin und wusste, dass er dieser blind vertraute, er sie sogar liebte – so wie man eine Königin nun einmal liebte. Warum sollte das beim König der Menschen anders sein?
„Ja wir sterben für ihn. Und wegen ihm. Der Tod ist alles, was dieser König kennt.“ Wut fand ihren Weg in die Stimme des Mannes.
„Aber dann bist du ein Verräter, wenn du so von deinem König denkst“, meinte Almar besorgt, da er diesem Mann nichts so Böses zutrauen wollte. Denn seinen König musste man nun einmal lieben und achten. So hielt es jeder Zwerg. Die Königin der Zwerge war manchmal hart, aber ihre Entscheidungen dienten einzig dem Volk. Jeder Zwerg achtete ihre Worte, denn nur so konnte Frieden herrschen. Auch wenn die Menschen versuchten den Krieg in ihr Land zu bringen. Aber unter den Zwergen selbst herrschte Frieden.
„Verräter?“ Wieder lachte der Mann dunkel auf, auch wenn sein Lachen diesmal bei Weitem nicht mehr so viel Kraft besaß. „Verräter.“ Der Alte hauchte das Wort in das kalte Gefängnis. „Er ist der Verräter. Er hat uns alle verraten!“ Sein dunkler Blick, der ziellos in die Schwärze führte, vollendete, was er an Worten unausgesprochen ließ.
Wieder betrachtete Almar den völlig reglosen Steinmetz, und viele Fragen eilten durch seinen Geist. War es vielleicht nicht so, wie er gedacht hatte? Waren die Menschen doch nicht alle gleich?
So oft hatte die Königin ihnen gesagt, dass diese Langgewachsenen ein rachsüchtiges Volk wären, dass sie alles für sich beanspruchten. Aber diese Vorstellung wollte nicht zu diesem Mann passen.
„Was hast du gegen die Zwerge? Warum willst du sie töten?“, wagte Almar die Frage, auch wenn er Tibur nun vielleicht daran erinnerte, dass sie doch eigentlich Feinde waren.
Tibur aber sah verwirrt auf und beäugte den für seine Augen Kleingewachsenen.
„Gegen die Zwerge?“, wiederholte er die Frage, als würde er sich über diese seltsame Frage wundern. „Nichts“, entgegnete er und schüttelte erstaunt den Kopf. „Was soll ich gegen sie haben. Du bist der erste, den ich sehe.“
„Aber warum greift ihr uns denn an?“, wollte Almar verbittert wissen.
„Wir euch? König Triton sagt, ihr würdet uns in Hinterhalte locken und ohne Vorwarnung töten“, sprach der Mann sein Wissen aus, doch ohne, dass es für ihn von Belang wäre. „Wenn wir nicht Acht geben, würdet ihr das Reich von Momos bald überrennen.“
Wütend über diese Lüge verharrte der Zwerg mit verengten Augen und stierte nun ebenfalls in eine dunkle Ecke.
So schwiegen sie beide, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Nicht einmal die Uhr der verhallenden Schläge zählte noch die Zeit.
„Würdest du deinen König verraten?“, fragte der Zwerg leise, ohne von seiner Ecke weg zu sehen.
Es brauchte eine Weile, bis Tibur aus seinen Gedanken aufwachte. „Du meinst, ob ich ihn töten wollte?“, änderte er die Frage, da ihm die Formulierung mit Verrat nicht gefiel.
Almar ließ ein kurzes Grollen in seiner Kehle aufsteigen, um zuzustimmen.
„Ich habe in den letzten Monaten oft darüber nachgedacht. Nur leider sind meine Arme nicht stark genug. Zu viele Wachen.“ Er lachte ein schweres, trauriges Lachen. „Und es ist er nicht allein! Es sind die Soldaten, die machen was sie wollen und König Triton und viele Stadthalter schauen bei allem zu und halten die Hand auf. Bald wird es bei uns so sein, wie in den anderen Reichen auch. Das ganze System ist krank.“
Almar war wie von einem Schlag getroffen. Er hatte die Frage gestellt, um seine abwegige