„Das ist lächerlich, Felix. Ich war schon immer der Stärkere von uns beiden! Daran wird sich niemals etwas ändern.“ Mit einem gezielten Hieb schlug Robert Felix den Stock aus der Hand und sprang dann triumphierend empor, während sich Felix seine schmerzende Hand rieb.
„Gewonnen!“, jubelte Robert und Felix wandte sich von ihm ab. Ich sah die Tränen in seinen Augen und griff instinktiv nach meiner gebrochenen Hand. Der Sieger schien nicht zu sehen, wie stark er den Verlierer verletzt hatte, denn er war immer noch mit Jubeln beschäftigt, während der andere mit den Tränen kämpfte und verzweifelt die verletzte Hand an seine Brust drückte.
Wieder schien sich der Schatten von seiner Position zu entfernen, doch er blieb nach wenigen Schritten stehen und sah ebenfalls auf die zwei Kinder. Das Jubeln stoppte erst als ein leises Wimmern zu hören war und Felix sich zusammen krümmte.
„Felix? Was? Was ist los?“ Es war Angst in der Stimme von Robert zu hören, als er zu seinem Freund eilte und besorgt über dessen Schulter sah. Ich konnte nicht verhindern, dass ich ebenfalls meine gebrochene Hand an meine Brust zog und mein Blick erneut zu dem Schatten wanderte. Auch wenn ich ihn nicht erkannte, wusste ich, wer dort stand und ein Kloß bildete sich in meinem Hals.
„Es tut weh! Es tut so weh! Mach das es aufhört!“ Immer wieder wurde er von einem Schluchzen unterbrochen und ich spürte, dass ich selbst diesen Wunsch oft hatte. So oft hatte ich Robert um Hilfe gebeten, wo er nicht helfen konnte. Wie sollte er mir die Schmerzen nehmen? Er war genauso jung wie ich und wusste auch nicht mehr als ich. In dieser Nacht war es das erste Mal, dass ich diese Hilflosigkeit in seinen jungen Augen sah, dennoch schaute er sich panisch um.
„Keine Sorge, Felix. Ich helfe dir. Warte, hier ist bestimmt etwas.“ Er behielt einen klaren Kopf, obwohl der Glanz in seinen Augen etwas anderes sagte. Seine Füße trugen ihn zum Wegesrand und er begann einige Pflanzen zu pflücken. Jetzt erkannte ich, dass es Sauerampfer war, die er meinem jüngeren Ich zum Essen gab.
„Darauf musst du herumkauen und dann geht es dir gleich wieder besser. Los, wir gehen zu unseren Eltern. Die können uns bestimmt helfen.“ Wieso benahm er sich umso vieles reifer als ich? Das war doch nicht möglich. Niemals wirklich möglich. Wir waren gleich alt und dennoch war er umso vieles reifer.
Felix nickte und kaute brav auf den Kräutern. Seine Tränen versiegten Stück für Stück und er folgte seinem besten Freund schließlich. Sie gingen an mir vorbei, doch sahen sie mich auch jetzt nicht. Ich blickte ihnen hinterher und spürte diesen Stich in meinem Herzen. Wieso mussten diese Zeiten enden?
„Du warst schon immer eine Heulsuse.“ Die Stimme von Robert riss mich herum. Er stand plötzlich neben mir und lächelte mich nur kurz an. Wieso war er plötzlich bei mir? Warum habe ich ihn nicht kommen hören? Das war doch nicht möglich.
Ich ging einen Schritt zurück und spürte das Holz unter meinen Füßen, bevor ich das Geländer hinter Robert erkannte. Wir standen auf der Brücke, aber das war nicht möglich. Ich hatte mich doch keinen Schritt bewegt.
„Aber weißt du was? Es war mir schon immer egal gewesen. Denn auch wenn du leicht zu weinen angefangen hattest, so konnte man dich auch ganz einfach wieder beruhigen. Ich hab dir immer nur Sauerampfer zum Essen gegeben. Das hat dich meistens schon soweit abgelenkt, dass du den Schmerz vergessen hast. Wahrscheinlich hast du wirklich geglaubt, dass es heilende Kräfte hat.“
„Wieso bist du hier, Robert?“, fragte ich dann ruhig und spürte, dass ich keine Angst mehr vor ihm hatte und mit einem Seufzer drehte er sich um. Er sah über das Gelände in das Wasser und ich trat zu ihm. Es war ein komisches Gefühl neben ihm zu stehen und in den fließenden Fluss zu blicken.
„Das weiß ich nicht. Warum stehst du neben mir, Felix?“ Er sah mich ruhig an und sein Blick erkannte den Gips. Sanft griff er nach meiner Hand und hob sie leicht hoch. Ich konnte Trauer in seinen Augen sehen und tiefes Bereuen.
„Wo soll ich sonst stehen?“, gab ich die Frage zurück und im nächsten Moment veränderte sich das Lächeln auf seinen Lippen zu etwas, was ich dort nie wieder sehen wollte. Ich verstand nicht, was gerade passierte, als er mich plötzlich mit einem Stoß über das Geländer beförderte.
Die Luft rauschte kalt an mir vorbei und ich sah in das Gesicht von Robert, als ich seine letzten Worte hörte: „Wirklich neben mir.“ Das eisige Wasser umschloss mich und ich schreckte hoch.
Die Dunkelheit um mich herum blieb, doch anstatt des Wassers spürte ich die warme Decke um meinen Körper. Ich hörte das leichte Schnarchen von Leon und erkannte den ruhigen Körper von Alex nicht einmal eine Armlänge von mir entfernt. Das Display der digitalen Uhr zeigte mir, dass es gerade einmal drei Uhr morgens und alles nur ein Traum gewesen war. Ein einfacher Traum.
Ich ließ mich nach hinten sinken und starrte an die dunkle Decke, während ich dem Atem meiner Freunde lauschte. Sie waren da und sie nahmen mir den Schmerz ohne der Hilfe irgendwelcher Tricks. Ist es wahr? Hatte mich Robert immer nur getäuscht? Waren wir überhaupt richtige Freunde gewesen? Hatte ich ihm jemals vertrauen können?
Ich seufzte schwer und schloss meine Augen, als ich erneut Tränen in ihnen spürte. Nein, ich wollte nicht heulen. Klar, hatte Robert Recht. Ich war eine Heulsuse, aber irgendwann musste es doch aufhören. Irgendwann... Doch er fehlte mir. Er fehlte mir mit jedem Tag, der verging.
Ich rollte mich zur Seite und zog meine Beine enger an meinen Körper. Die Nacht war noch lange und ich wollte schlafen. Nur noch schlafen und auch wenn er mich das letzte Mal in den Tod gestoßen hatte, so hoffte ich dennoch, dass ich ihn noch einmal sah. Nur noch ein einziges Mal…
Der Geruch von frischen Semmeln und Kaffee drang in meine Nase und führte mich sanft aus der Dunkelheit des Schlafes. Ich musste gähnen und streckte mich kurz, bevor ich mich dann langsam aufrichtete und bemerkte, dass Leon und Alex schon wach waren. Wenn ich mich konzentriere, dann konnte ich ihre Stimmen sogar aus der Küche hören.
Ich fuhr mir schläfrig durch die Haare und sah kurz aus dem Fenster, das begierig das Licht in den Raum ließ. Es war ein seltsames Gefühl, nicht im eigenen Zimmer aufzuwachen und doch fühlte ich mich hier geborgen. Kurzerhand schlug ich die Decke zur Seite und stand dann auf, um mich schnell anzuziehen und dann zu den anderen Beiden in die Küche zu gehen.
„Morgen“, begrüßten sie mich sofort, als sie mich erblickten. Leon stand am Herd und schien Speck und Rührei zu machen. Da hatte jemand vor, uns rundum zu verwöhnen. Alex hingegen deckte gerade den Tisch zu Ende und wandte sich mir dann mit einem Lächeln zu.
„Na? Hat das Dornröschen endlich ausgeschlafen?“, neckte mich Leon und ich spürte, wie ich leicht rot wurde. Solange waren sie bestimmt noch nicht wach und außerdem wurde das Dornröschen auch einmal in der Nacht im Schlaf gestört.
„Schon, aber vor allem riecht es hier so gut. Das hat mich geweckt.“ Meine Erklärung klang erbärmlich und ich musste kurz trocken schlucken, bevor ich dann zu Alex trat und unsicher an meinem Gipsverband zupfte. „Kann… kann ich dir irgendwie helfen?“
„Nein, wir sind schon so gut wie fertig. Setz dich einfach hin und lass dich bedienen, Prinzesschen.“ Er lächelte mich an und wuschelte mir kurz durch die Haare, als er zurück zu Leon ging und diesem dabei half das Essen auf Teller zu verteilen, um dann gemeinsam mit ihm und diesen zum Tisch zurückzukehren.
„So, lasst es euch schmecken. Ich hoffe, dass ich alles richtig gemacht habe, denn ich stehe nicht so oft in der Küche.“ Leon nahm Platz und machte eine einladende Geste über den Tisch, dennoch zögerte ich und ließ Alex den Vortritt. Es war ein komisches Gefühl, hier mit ihnen zu sitzen. Sie unterhielten sich und ich fühlte mich außen vor. Ja, ich wusste, dass dieses Gefühl falsch war, trotzdem konnte ich es nicht verhindern.
Als Letzter nahm ich mir nun ebenfalls etwas Essen und begann den Hunger zu stillen, während ich den Worten von Leon und Alex lauschte, die sich über die Pläne für den heutigen Tag unterhielten.
„Kino