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Anfang März deckt Helena ein Leinen auf die Kiepe mit den von Helge zuvor bestellten Käselaiben für seine Mutter Line, Köchin in Villa Achterkerke. Helena rückt die Riemen am Rücken zurecht, und geht hinaus in den windarmen Frühlingsmorgen. Froh bemerkt sie an der Ahlbecker Chaussee die an saftigen Zweigen sprießenden roten Knospen, nicht aufzuhalten im Sonnenlicht. So wie sie selber, die ihre Schultern voran stemmt. Fern hört sie Hufe traben, indes sie an den Hügel zur Villa einbiegt.
Nach ihrem Klopfen an die rückwärtige Küchentür, öffnet ihr Line, die zugreift, die Kiepe am Grill ausleert. Helena mustert wie jedes Mal ihre Freundin. Ein weißes Tuch bedeckt ihr Haar, ihre Brust die Rüschen der Schürze, von ihr betastet. Der Mund, der pausenlos witzeln und jede Schinderei würzen kann, liegt in scharfen Zügen. Dennoch umarmt Helena herzlich Line, nimm ihre Münzen an. Line stellt sich vor die großen Kochtöpfe, die noch keine Speisen in den Raum duften oder hinaus der drei schmalen Fenster. Das Morgenlicht malt an die schwarzweißen Bodenfliesen vor den blank polierten Herd Karrees, hübsch gespiegelt an den emaillierten Klappen, doch nicht an Lines Gesicht.
„Ach, Helena, der Tag heute wäre nach deinem Geschmack. Du liebt es, bleibt nichts gleich. Deinem Naturell entfällt solch eine Ärgerlichkeit wie der ausgefranste Saum an deinem braunen Rock. Ja, Helena, Graf Bülow ist auf Gothen, er hat Ärger mit dem Verwalter, der nach Amerika will. Setz dich zu mir, Tee ist stets bereit, fährt der Graf früh aus.“
Im selben Atemzug noch, füllt Line für Helena eine Tasse, rückt weniger geschwind die Zuckerdose vor sie, und plumpst auf einen Stuhl. Hektisch tippt sie an die Zeitung am Tisch, fährt mit dem Finger entlang an einem Bericht.
„Oklahoma Land Run. Besiedelung des Indianerterritoriums am 22. April 1889. Freigabe von zwei Millionen Morgen fruchtbares Land an Siedler. Auswandererschiffe gehen von Hamburg ab.“
Line reckt die Stirn in die Luft. Ihr Blick streift Helena, dann durch die Küche. Im Ton ihrer Stimme schwingt Unbehagen.
„Der Verwalter hörte von den im Hamburger Hafen Lungernden. Ungelernte heuern auf Dampfern an, schuften während dem Warten auf ihre Abfahrt siebzig Stunden am Stück, erschütternd sowas. Aber davon klingeln Helge die Ohren, und jetzt auch von meinen Prügeln. Mag ihn nicht hergeben, brauche ihn für Steffi. Denn mein Oller ist seit Joos’ Unglück wie ausgewechselt, wälzt sich nachts, pufft ins Bettzeug, gemartert von der Endlichkeit eines Fischerlebens. Wegen dem von Joos. Helge bekniet er, nicht aufs Erbe des Fangrechts zu warten, kein Helfer zu bleiben. Aber der taugt auch nicht fürn Ackerbau. Was soll nur werden ...“
Line krümmt sich vor häuslichen Sorgen und wischt über ihre Stirn, deutet dann auf die Zeitung.
„Letzthin stritten Graf und Verwalter ausführlich über neue Dünger. Hätte er sein lassen können, haut er sowieso ab. Dieser Zeitungsbericht preist die Düngetafel Grünebergs als unentbehrlich für die Wirtschaft. Der Forscher konnte den Westdeutschen Verein für Erfindungsschutz gründen und den Chemieverband. Aus Stettin stammt er und durfte als zweites von sechs Kindern eine Lehre in der Pelikan-Apotheke absolvieren.“ Line tippt nachhaltig auf. „So sollte es sein. Allerdings gehen hier die potentiellen Gönner in Ferien, achten kaum auf meinen barfüßigen Ableger, der im Sand pickt wie ein Hahn auf Suche nach einem goldenen Korn.“
Ein angedeutetes Kopfschütteln bringt Helena zustande. Sie bedient sich mit der grazilen Zange vom Würfelzucker aus einer Porzellandose im Silbergestell, und rührt ihren Tee.
„Male Helge keine schwarze Zukunft, Line, auch wenn er auf Steffi achten muss. Mit der Zeit findet er etwas besseres.“
„Wenn das doch bald wäre, sonst rutscht er ab.“
Lines Wangen blähen sich gewichtig. Gedankenverloren nimmt sie einen Zuckerwürfel und wirft ihn zwischen den Händen hoch.
„Line, Sorgen helfen Helge nicht. Lass dich nicht am Zucker aus, nimm einstweilen unseren Schnack. Neuen Dünger brauche ich nicht, von eigenem Mist wachsen prächtige Kartoffeln. Putzenius kennt übrigens Major Dreher gut, den Gründer unserer Ahlbecker Feuerwehr. Sein Einsatz komme nah dem des Bürgermeisters, meint er, und freut sich auf die Einweihung am ersten April.“
„Ich geh nicht zu dem Fest, und Helge soll das auch nicht!“
Lines Verdruss sitzt tief in ihren Mundwinkeln. Sie wirft den Zucker in die Tasse und rührt hektisch mit dem Löffel.
„So eine Veranstaltung wie die gibt nur unerfreuliche Ablenkungen, und artet stets in Bechern aus. Grobe Leute sichern uns die Häuser.“
„Reibe dich nicht daran!“ Helena zieht Leuchten in ihre Augen. „Besser am Baulärm an Swinemünder Villen. Das Wolliner Kreisblatt berichtet, Swinemünde wird der reichen Welt reizvoller werden, das Stadtbild soll glänzen wie einst. Zumal inzwischen etliche Berliner Familien für Wochen von teuren Ahlbecker Hotels nach Heringsdorf abweichen. So jedenfalls begründet das Kreisblatt die Umtriebe des Bürgermeisters Herrn Eggebrecht.“
„Helge taugt weder für Bauarbeiten, noch für eine Pension.“ Übergangslos legt Line ein Grinsen der Art in ihr Gesicht, von der sie weiß, Helena mag es, denn sie bedrückt noch etwas. „Erst im Mai kommen mehr Gäste in die Villa, doch plant der Graf schon seine eigene Molkerei. Deshalb, Helena, verkaufe den Käse alsbald woandershin. Frage die Köchin bei den Delbrücks.“
„Oh! Das erwischt mich kalt. Euer Käsegeld kam regelmäßig!“
Helenas Hände knallen auf die Tischplatte. Durch den Schlag hindurch, spürt sie einen leisen Hauch aus dem Winterruhe, der ihr einen Handelswagen zeigte, eine andere Möglichkeit.
Line, derweil noch bestürzt von dem, was sie ausgelöst hat, nestelt an einem Schürzenträger, wobei sie tief den Kopf neigt. Denn steif sitzt Helena, mit Blässe um die Nase.
„Ach, Helena, ich hab dich erschreckt, und schlecht siehst du aus, aber lass den Kopf nicht hängen. Besuch die Swinemünder und verkaufe deinen Verwandten etwas von deinem Käse.“
„Ach, die missgönnen mir das Schwarze an den Nägeln! Bauern sind denen unschickliches Pack ohne Hirn. Sie würden mich einer Pension vermitteln. Im Dankesbrief für die Anteilnahme an Joos’ Hinscheiden bekundete ich, mir gebe mein Land ein gutes Leben.“
„Ja, die eigene Scholle, sei sie noch so klein, erhält dich in unserer Zeit des Kopfstehens. Schlimm geht es den Städtern. Neid und größte Armut gehen überall um.“
Line nickt leicht, an ihre viel eher reichen Gäste denkend, und an das Befinden ihrer Freundin Helena. Line deutet hin auf Helenas Tee, und schaut zu wie sie trinkt. Dann aber plappert sie, ohne einen witzelnden Beiklang von Nöten zu sehen, nur um Helena etwas abzulenken.
„Vor Zeiten gründeten die Siedler von Gut Gothen die Dörfer auf Parzellen von Oberforstmeister von Bülow, mit Salzhütten am Strand, worin Aufseher die Fassheringe prüften, bevor die zum Verkauf frei waren. Unsere Fischer sind rechtschaffen wie einst geblieben, wenige schwarze Schafe lechzen nach mehr Vermögen.“ Helenas Lider flattern, also ergänzt Line in warmherzigem Ton: „Deiner Landidylle steht ein schwerer Weg ohne Joos bevor. Du willst mit deinen zwei Händen alles beackern? Mir würde es vor der Plackerei grausen! Dein Mut scheint dir nicht zu fehlen.“
„Ooch ... es kommt auf den Zweck an. Sind die Kartoffeln in die Erde gelegt, wachsen meine paar Reihen von allein.“
Helena mag über Vedders Beitrag nichts berichten, denn Line lächelt bewundernd und neugierig. Davon muss sie Line ablenken.
„Wendickes Hotel lädt zu Abendgesellschaften, zur Feier des fünfzehnten Jahres an der Dünenstrasse. Vermutlich wegen neuer respektabler Konkurrenz. Ecke Seestrasse eröffnet nächstes Jahr der Ahlbecker Hof.“
„Fünfzehn Jahre? Schnell vergangen. Das Amt teilt großzügig Baugenehmigungen aus. Ob der Spekulanten rauft Graf Bülow sein schütteres Haar, aber eigentlich reibt er seine