»Es muß sehr geschmerzt haben«, sagte ich mitleidig.
»Das Krachen der Knochen war nicht schön«, lautete seine Antwort.
Über seinen Prozeß war er sich noch nicht ganz klar. Nur soviel wußte er, daß er keinen Schadenersatz erhalten hatte. Er hatte das Gefühl, daß die Aussagen des Direktors und des Werkmeisters die ungünstige Entscheidung des Gerichts herbeigeführt hatten. Ihre Aussagen, wie er sie hinstellte, »waren nicht, wie sie hätten sein sollen«. Und ich beschloß, diese Zeugen aufzusuchen.
Eines war klar, die Lage Jacksons war erbärmlich. Seine Frau war leidend, und er selbst konnte durch das Rohrflechten und Hausieren den Lebensunterhalt für seine Familie nicht verdienen. Er war mit der Miete im Rückstand, und sein ältestes Kind, ein Junge von elf Jahren, hatte jetzt angefangen, in der Spinnerei zu arbeiten.
»Sie hätten mich als Wächter einstellen sollen«, waren seine letzten Worte, als ich ging.
Als ich dann den Anwalt, der Jackson vertreten, sowie die beiden Werkführer und den Generaldirektor der Spinnerei, die in dem Prozeß ausgesagt, gesprochen hatte, begann ich zu fühlen, daß in dem, was Ernst behauptete, etwas Wahres steckte.
Der Anwalt machte den Eindruck eines energielosen, unfähigen Menschen, und bei seinem Anblick wunderte ich mich nicht, daß Jackson seinen Prozeß verloren hatte. Mein erster Gedanke war, daß Jackson Recht geschehen war, weil er sich einen solchen Anwalt genommen hatte. Im nächsten Augenblick aber kamen mir plötzlich zwei Behauptungen von Ernst zum Bewußtsein: »Die Gesellschaft beschäftigt sehr tüchtige Rechtsanwälte« und »Ingram ist ein scharfsinniger Jurist.« Ich überlegte schnell. Es wurde mir klar, daß die Gesellschaft sich natürlich bessere Juristen leisten konnte als ein Arbeiter wie Jackson. Aber das war das wenigste. Es mußte unbedingt einen Grund haben, daß der Prozeß ungünstig für Jackson ausgefallen war. »Warum haben Sie den Prozeß verloren?« fragte ich. Der Anwalt war bestürzt und sah mich einen Augenblick zerquält an, und ich empfand Mitleid mit dem armseligen Menschen. Dann begann er zu jammern. Ich glaube, das Jammern war ihm angeboren. Er jammerte über die Zeugenaussagen. Sie wären alle zugunsten der Gegenpartei ausgefallen. Nicht ein einziges Wort zugunsten Jacksons hätte man aus ihnen herausbringen können. Sie hätten gewußt, wo die Butter für ihr Brot zu holen war. Jackson sei ein Dummkopf. Er wäre durch Ingram eingeschüchtert und verwirrt worden. Ingram sei glänzend im Kreuzverhör. Er hätte Jackson veranlaßt, nachteilige Antworten zu geben.
»Wie konnten seine Antworten nachteilig sein, wenn er das Recht auf seiner Seite hatte?« fragte ich.
»Was hat das mit Recht zu tun?« fragte er zurück. »Sehen Sie alle diese Bücher.« Er wies mit der Hand auf eine Reihe von Bänden an den Wänden seines winzigen Bureaus. »Alles, was ich in ihnen gelesen und studiert habe, hat mich gelehrt, daß Gesetz und Recht zweierlei sind. Fragen Sie jeden Anwalt, den Sie wollen. In der Sonntagsschule lernt man, was Recht ist. Aus diesen Büchern aber lernt man eines: Gesetz.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Jackson im Recht war und doch verurteilt wurde?« forschte ich. »Wollen Sie sagen, daß es keine Gerechtigkeit in Caldwells Gericht gibt?«
Der kleine Anwalt starrte mich einen Augenblick an, dann aber schwand die Energie aus seinen Zügen.
»Ich hatte keine Möglichkeit«, begann er wieder jammernd. »Sie haben Jackson zum Narren gemacht und mich auch. Welche Möglichkeiten hatte ich auch. Ingram ist ein großer Jurist. Wäre er das nicht, würden ihm dann die Sierra-Spinnereien, das Erston Land-Syndicate, die Berkeley Consolidated, die Oakland, San Leandro und Pleasenton Elektrizitätswerke die Führung ihrer Rechtsgeschäfte übertragen haben? Er ist Trustanwalt, und ein Trustanwalt wird nicht umsonst bezahlt Aufgabe der Trustanwälte war es, durch korrupte Methoden den geldrafferischen Neigungen der Trusts zu dienen. Hierauf bezieht sich, was Theodore Roosevelt, damals Präsident der Vereinigten Staaten, im Jahre 1905 sagte: »Wir alle wissen, daß, wie die Dinge zur Zeit liegen, viele der einflußreichsten und bestbezahlten Mitglieder der Gerichtsbarkeit in jedem Zentrum des Reichtums es sich zur besonderen Aufgabe machen, kühne und feindurchdachte Pläne auszuarbeiten, die ihre wohlhabenden Klienten, seien es einzelne Persönlichkeiten oder Korporationen, instandsetzen, die Gesetze zu umgehen, die den Nutzen der großen Reichtümer zum Besten der Gesamtheit regulieren sollten.«. Wofür meinen Sie wohl, zahlt die Sierra-Spinnerei allein ihm zwanzigtausend Dollar jährlich? Natürlich, weil er ihnen zwanzigtausend Dollar jährlich wert ist. Ich bin nicht soviel wert. Wäre ich es, so stünde ich nicht abseits, darbte und übernähme Prozesse wie den Jacksons. Was, glauben Sie, hätte ich bekommen, wenn ich den Prozeß gewonnen hätte?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach hätten Sie Jackson ausgeplündert«, antwortete ich.
»Selbstverständlich!« rief er ärgerlich. »Ich muß doch auch leben, nicht wahr Eine typische Illustration des mörderischen Ringens, das die ganze Gesellschaft umfaßte. Die Menschen plünderten sich gegenseitig wie raubgierige Wölfe. Die großen Wölfe fraßen die kleinen, und in diesem Rudel war Jackson einer der allerkleinsten.?«
»Er hat Frau und Kinder«, tadelte ich ihn.
»Ich auch«, erwiderte er. »Und außer mir kümmert sich kein Mensch in der Welt darum, ob sie darben oder nicht.«
Seine Züge wurden plötzlich weich, er öffnete seine Uhr und zeigte mir die auf die Innenseite des Deckels geklebte Photographie von einer Frau und zwei kleinen Mädchen.
»Das sind sie, sehen Sie sie an. Wir haben schwere Zeiten durchgemacht, schwere Zeiten. Ich hatte gehofft, sie aufs Land schicken zu können, wenn ich Jacksons Prozeß gewann. Sie brauchen Landluft, aber ich kann es mir nicht leisten, sie fortzuschicken.«
Als ich mich zum Gehen anschickte, verfiel er wieder in sein Jammern.
»Ich habe nicht die geringsten Aussichten. Ingram und der Richter Caldwell sind befreundet. Ich will nicht sagen, daß diese Freundschaft den Prozeß entschieden haben würde, wenn ich im Kreuzverhör die Zeugen zu den richtigen Aussagen bekommen hätte. Aber Caldwell tat doch sein Möglichstes, um zu verhindern, daß ich das richtige Beweismaterial zusammen bekam. Caldwell und Ingram gehören derselben Loge und demselben Klub an. Sie sind Nachbarn in einer Gegend, wo ich es mir nicht leisten kann zu wohnen. Und ihre Frauen besuchen sich immer. Sie haben ihre gemeinsame Whistpartie und lauter ähnliche Dinge.«
»Und glauben Sie noch, daß Jackson im Recht war?« fragte ich, indem ich einen Augenblick auf der Schwelle stehenblieb.
»Ich glaube nicht, ich weiß nicht«, lautete die Antwort. »Zuerst glaubte ich auch, daß er Aussichten hätte. Aber ich sagte meiner Frau nichts davon. Ich wollte ihr keine Enttäuschung bereiten. Ihr Herz hing an einem Aufenthalt auf dem Lande, so schwer das auch zu machen war.«
»Warum lenkten Sie nicht die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß Jackson die Maschine vor Schaden zu bewahren versuchte?« fragte ich Peter Donnelly, einen der Werkführer, die vor Gericht ausgesagt hatten. Er überlegte lange, ehe er antwortete. Dann warf er einen scheuen Blick um sich und sagte: »Weil ich eine brave Frau und drei der süßesten Kinder habe, die Ihre Augen je erblickt haben. Deshalb.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte ich.
»Mit andern Worten, weil es nicht ratsam gewesen wäre«, antwortete er.
»Sie meinen –« begann ich.
Er unterbrach mich heftig.
»Ich meine, was ich sage. Ich arbeite seit vielen Jahren in der Spinnerei. Als Kind fing ich an den Spindeln an und habe mich seitdem langsam heraufgearbeitet. Nur durch schwere Arbeit habe ich meine jetzige Stellung erlangt. Ich bin Werkführer, mit Verlaub. Und ich zweifle, daß in der ganzen Spinnerei sich eine Hand ausstrecken würde, um mich vor dem Ertrinken zu retten. Ich war immer Mitglied der Gewerkschaft. Aber bei zwei Streiks habe ich der Gesellschaft geholfen. Sie nannten mich einen Streikbrecher. Nicht einer von ihnen würde ein Glas mit mir trinken, wenn ich ihn dazu einlüde. Sehen Sie die Narben an meinem Kopfe? Sie stammen von Ziegelsteinen, die nach mir geworfen wurden. Kein Kind an den Spindeln, das meinen Namen nicht verfluchte. Mein einziger