Er stürzte hinaus und ließ Margareth vernichtet zurück. Als der Graf, schwankend, wie ein Halbberauschter den Ausweg aus dem Labyrinthe der Zimmer und Kabinette wieder gewonnen und endlich das Balüstre erreicht hatte, stieg der Schlossherr, von unbestimmten Ahnungen aus der Unterhaltung mit seiner Braut aufgescheucht und zu dem Turmkabinette hinaufgetrieben, gerade die nördliche Treppe hinauf, und sah, wie der Graf sich auf die Balustrade stützte, um nicht umzusinken. In derselben Minute stand Rittberg aber auch neben ihm und sah ihm besorgt in das entsetzlich verstörte Gesicht.
»Wohin wollen Sie, Levin? Was ist Ihnen?« fragte er hastig eine Hand fassend.
»Wohin ich will?« wiederholte der junge Edelmann im dumpfen Bewusstsein seines ewigen Unglückes. Er schien nachzudenken.
»Am liebsten aus der Welt – am liebsten in ein kühles, stilles Grab,« setzte er dann eintönig, aber sehr fest hinzu. »Doch seien Sie unbesorgt, Rittberg, ich will jetzt nur zu Haus!«
»Was soll dies bedeuten, Graf? Was ist vorgefallen? Wilder, leidenschaftlicher Mann –fassen Sie sich! Es muss sich ja zwischen uns ein Weg der Verständigung finden lassen!«
»Verständigung?« fragte Graf Levin ganz gefasst und kalt. »Ich habe hinreichend gut alles verstanden und begriffen! Leben Sie wohl!«
»Ich kann, ich darf Sie nicht gehen lassen, Graf,« erklärte Rittberg aufgeregt. »Meine Ehre – meiner Schwester Ehre steht auf dem Spiele!«
»Fragen Sie nur die, welche ich noch vor wenigen Minuten ›meine weiße Taube‹ genannt, welche ich unsäglich geliebt, welche ich wie Gott selbst angebetet habe. Fragen Sie Margareth!«
Er wendete sich, eilte die Treppe hinab und warf sich, zum Schrecken des Stalldieners, auf sein erschöpftes Pferd. Wie weit er auf diesem treuen Tiere gekommen ist, weiß keiner. Es fand sich am andern Tage, fast zu Tode gehetzt, an seiner Stalltür ein. Vom Grafen Levin aber wusste niemand, wo er geblieben sei.
Viertes Kapitel.
Von Befürchtungen gefoltert, schritt Rittberg merklich beeilt den Korridor entlang auf das Turmzimmer seiner Tante zu. Er kannte nur allzu wohl die dämonische Einwirkungskraft der nach den höchsten Bildungsstufen ringenden Frau, um nicht alles Schreckliche erwarten zu müssen, und seine Einbildung malte ihm einen Auftritt, der sich auf dieses Feld ihrer Herrscherlaune bezog. Dass die Beleidigung seines Schwagers weit tiefer ins Herz schneidend sein könne, dachte er trotz der sichtlichen Verstörtheit des Grafen doch nicht.
Indem er im Begriffe war die Türe des Kabinetts zu öffnen, hörte er sich rufen, und zurückschauend bemerkte er den Junker Wolf, der, ebenfalls von einer Unruhe seltsamer Art befallen, den Ess-Saal verlassen hatte und auf den Hof getreten war, als der Graf jagend das Schloss verließ. Rittberg ging ihm entgegen.
»Um Gotteswillen!« rief der Junker bestürzt, »was ist vorgefallen? Mein Vetter hat in einem Zornanfalle seine Braut verlassen! Was ist geschehen?«
»Ich weiß es nicht!« berichtete Rittberg. »Eilen Sie Ihrem Vetter nach – halten Sie ihn irgendwo auf - benachrichtigen Sie mich – nehmen Sie meinen treuen Johann mit – die schnellsten Pferde – nur schnell – schnell, damit Sie ihn einholen, Wolf!«
Der Junker verbeugte sich und sprang die Treppen wieder hinab.
»Ich fürchte, hier hilft keine Eile,« murmelte er unterwegs; »mir scheint bei dem Brettow’schen heißen Blute alles verloren. Arme Margareth!«
Rittberg trat unverzüglich in das Kabinett. Er fand seine Tante ruhig im Kanapee sitzend, das Lächeln innerlicher Befriedigung auf dem stolzen, noch immer schönen Antlitze, während Margareth mit krampfhaft verschlungenen Händen am Fenster stand und unverwandt ins Tal hinabschaute.
Die Sonne war nun ganz hinabgesunken und nur ein roter Streifen am Horizonte bezeugte noch ihr Verschwinden. Der Nebel breitete seine grauen Flügel über die Erde hinweg, eine heilige Stille begann einzukehren und eine erquickliche Ruhe waltete bald überall. Herr von Rittberg legte im Impulse seiner brüderlichen Würde den Arm um Margareth und sah seine Tante mit einem ziemlich strengen und herausfordernden Blicke an.
Margareth blickte wie eine Träumende in die Weite, wo eben ein Ross mit einem Reiter im Nebellichte des dämmernden Abends verschwand. Ihr Finger deutete dorthin, als sie sich hilfsbedürftig an die Brust des Bruders lehnte und leise flüsternd zu ihm sprach:
»Verloren! Alles verloren!«
Frau von Wallbott kam seiner Frage nach der schweren Bedeutung dieser Worte zuvor, und setzte ihren Neffen mit kurzen, beflügelten Worten von dem Vorgefallenen in Kenntnis.
»Keine Klagen und keine Szenen, mein bester Reinhard,« schloss sie befehlend. »Ich wünsche, dass sich Margareth von jetzt an bis zur Ankunft Alexanders überlassen bleibt, damit sich ihre Seele erst wieder zurechtfindet, damit sich ihr Gemüt beruhigt.«
»Und mein Herz?« fragte das junge Mädchen bitter.
»Dein Herz wird unter den Beschwichtigungen der wiederhergestellten Seelenruhe bald wieder vernünftig pulsieren,« entschied Frau von Wallbott kurz. »Übernimm meine Entschuldigung bei Deinen Gästen, lieber Neffe, und schweige, selbst gegen Elvire, von dem, was hier geschehen ist. Morgen wird sich das Weitere finden. Margareth kann bei mir bleiben.«
Ob Margareth bei ihr zu bleiben Lust hatte, danach fragte sie gar nicht. Aber Rittberg kam seiner Schwester zu Hilfe.
»Wenn Margareth ungestört ihre Seelenruhe wiederzuerlangen suchen soll, so muss sie allein bleiben, und nicht unter den Ratschlägen einer Tante, die ihr Empfindungssystem lenken und leiten kann,« sprach er ernsthaft. »Ich werde meine Schwester in ihr Zimmer geleiten und bei unsern Gästen ihre Abwesenheit durch Kopfweh entschuldigen.«
»Das ist mir auch genehm, denn ich liebe es, meine Gedanken auszuruhen, nachdem ich etwas erlebt habe, was mich tief zu beschäftigen vermag. In einer einsamen Stunde gelingt mir dies besser und außer für Margareth würde ich mein Zimmer für jedermann verschlossen gehalten haben,« entgegnete die Dame etwas pikiert von dem Ernste ihres Neffen, der sich anschickte, mit Margareth das Zimmer zu verlassen.
»Noch eine Frage, liebe Tante, bevor ich Sie verlasse,« sagte er dicht an der Tür stehenbleibend. »Verbinden Sie eine Absicht mit dem für mich unerwarteten Eintreffen des Herrn Alexander von Lottum?«
»Ja, mein hochgeschätzter Neffe,« antwortete sie hochfahrend.
»Sie können doch nicht wollen, dass sich Margareth so leichtsinnig beweisen sollte, statt des Grafen Levin, jetzt den Herrn Alexander von Lottum zu heiraten?«
»Wäre dies leichtsinniger, als eine Heirat mit einem ungebildeten, roh leidenschaftlichen Manne, den Margareth erst seit Wochen kennt, während sie mit Alexanders Individualität seit Jahren vertraut ist?« fragte die Dame mit einer so abweisenden Härte, dass man an Herzlosigkeit dabei denken konnte. »Übrigens habe ich nicht Lust, mich in Antworten zu verstricken, die für ein Verhältnis, das ich nicht bestimmen, sondern nur wünschen kann, ganz unwesentlich sind. Ich enthalte mich aller Einwirkungen auf Margareths Gemüt und fordere von Dir dasselbe. Was dann kommt, ist Gottes Bestimmung!«
Sie reichte dem jungen, still nachsinnenden Mädchen die Hand, küsste sie auf die Stirn und sagte mit ganz verändertem Tone: »Du weißt, ich liebe Dich, mein Kind – schlafe ruhig und süß!«
»Was dann kommt, ist Gottes Bestimmung!« murrte der junge Schlossherr, als er seine Schwester schweigend in ihr Zimmer gebracht und den bestimmten Befehl erteilt hatte, »sie nicht zu stören und niemanden, wer es auch sei, zu ihr zu lassen.« -
»Mir scheint hier eine Gottesbestimmung von Menschenworten zertrümmert zu sein! Hätte ich nur den Grafen nicht fortgelassen! Meine Bestürzung