Als ich an meinem Ziel angekommen bin, stelle ich meinen Wagen mitten auf der Straße ab, da ich keine Zeit habe, erst einen freien Parkplatz zu suchen. Als ich auf die Tür zugehe, hoffe ich, dass sie dieses Mal sofort öffnen wird. Es steht gerade nicht besonders gut um meine Nerven.
Zu meiner Überraschung springt die Tür sofort auf. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend sprinte ich nach oben und halte auf ihre geöffnete Wohnungstür zu.
Doch kaum habe ich diese betreten, bleibe ich ruckartig stehen und ziehe scharf die Luft ein. Der Anblick, der sich mir gerade bietet, gefällt mir überhaupt nicht.
10
Rachel
Ich weiß, dass es nichts bringt, wenn ich mich vor ihm verstecke. Mir ist durchaus bewusst, dass er so lange vor meiner Tür stehen bleiben wird, bis ich öffne. Daher versuche ich es auch gar nicht erst.
Wahrscheinlich würde er sogar meine Tür eintreten, wenn ich sie nicht öffnen würde.
Doch ich habe keine Ahnung, wie ich ihm die Wunde an meiner Stirn erklären soll. Bis jetzt habe ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, was ich sage, falls mich jemand so zu Gesicht bekommt. Ich weiß ja nicht einmal, wie ich darauf reagieren würde, wenn meine beste Freundin mir so gegenüber stehen würde, und sie vorher schon Verletzungen hätte. Unter normalen Umständen würde ich es wissen, doch das hier kann man nicht einmal als normale Umstände bezeichnen. Es ist weit davon entfernt!
Ich stehe Cody nur wenige Zentimeter in meinem Flur entfernt. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Doch ich weiß nicht, was ich sagen kann.
Mit großen Augen, denen ich nicht entkommen kann, sieht er mich an. Mir ist klar, dass er meinen Anblick erst einmal verdauen muss. An seiner Stelle würde es mir nicht anders gehen. Ich sehe wirklich erschreckend aus und so fühle ich mich auch. Allerdings würde ich es vorziehen, wenn er etwas sagt, denn die Ruhe lässt mich wahnsinnig werden! Man kann auch sagen, dass es mir nur noch mehr vor Augen führt, was in den letzten Stunden alles geschehen ist.
„Was machst du hier?“, frage ich ihn schließlich, als ich die Ruhe nicht mehr aushalte, die sich zwischen uns gebildet hat.
Einen Augenblick schweigt er noch.
„Ich wollte dich sehen“, antwortet er dann endlich nüchtern und wendet sich dabei nicht von mir ab.
Auf diese Weise gibt er mir zu verstehen, dass er wissen will, was passiert ist. Und auch jetzt stehe ich wieder kurz davor, ihm die Wahrheit zu erzählen. Und das vor allem aus dem Grund, weil ich mich ihm anvertrauen will, um diese riesige Last loszuwerden.
Innerlich winde ich mich, nach außen versuche ich aber so ruhig wie möglich zu bleiben. Die Wahrheit ist aber, dass es mir immer schwerer fällt, je länger wir uns einfach gegenüber stehen.
Mein Verstand schreit mich an, dass ich mich an ihn lehnen soll. Es befiehlt mir regelrecht, dass ich mir endlich die Ruhe holen soll, die ich verdient habe. Allerdings kann ich es nicht.
Ich weiß, dass ich bei ihm in Sicherheit bin und er mich nicht für das verurteilen wird, was ich getan habe. Doch es fällt mir schwer, ihm die Wahrheit zu sagen, auch wenn ich es eigentlich will.
„Sorry, dass ich abgesagt habe. Aber ich muss mich gleich auf den Weg machen“, weiche ich ihm aus.
Einen Moment sehe ich ihn an und gehe dann an ihm vorbei in die Küche. Allerdings komme ich nicht sehr weit. In der Sekunde, in der ich durch die Tür trete, spüre ich, wie er nach meinem Handgelenk greift. Auf diese Weise hindert er mich daran, einfach zu verschwinden. Doch in diesem Moment will ich das.
Seine Wärme auf meiner Haut zu spüren lässt alte Erinnerungen wieder in mir aufkommen. In den nächsten Sekunden habe ich wieder Bilder vor meinem inneren Auge, wie wir gemeinsam Zeit verbringen und er mich einfach glücklich macht.
In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken und mein Herz rast wie verrückt. Ich versuche eine Lösung zu finden, wie ich ihm dies erklären soll, doch ich bin eigentlich nicht dazu in der Lage.
„Was ist mit dir passiert? Du kannst mir die Wahrheit sagen, das weißt du.“
Sein Blick ist eindringlich und seine Stimme gibt mir zu verstehen, dass ich ihm nicht ausweichen kann. Gleichzeitig zeigt er mir so aber auch, dass er bei mir ist und es auch bleiben wird.
Beim letzten Mal konnte ich ihm entkommen, in dem ich es auf einen Autounfall geschoben habe. Doch nun ist genau das nicht möglich. Er wird sich nicht mit einer Notlüge zufriedengeben. Und wenn ich ehrlich bin muss ich zugeben, dass ich froh darüber bin.
„Ich kann es dir nicht sagen“, murmle ich schließlich und schaue an ihm vorbei auf die Wand.
Ich will seinen Gesichtsausdruck jetzt nicht sehen. Ich bin mir nämlich sicher, dass es mir nicht gefallen wird, was ich dort sehe.
„Du wirst mir jetzt die Wahrheit sagen.“
Ich höre die Ungeduld in seiner Stimme. Auch wenn er im Gefängnis saß, weiß ich nicht, was er beruflich macht. Zumindest nicht genau. Ich bin mir sicher, dass es da ein paar Leute gibt, die nun zusammenzucken würden, wenn er in diesem Ton mit ihnen spricht. Sein Auftreten ist dominant und zeigt jedem, wer der Chef ist.
Doch das tue ich nicht. Und das vor allem aus dem Grund, weil ich weiß, dass er mir niemals etwas antun würde. Ich weiß nicht, was das zwischen uns ist, das wusste ich damals schon nicht. Doch ich weiß, dass ich bei ihm in Sicherheit bin. Er würde mir nie etwas antun.
„Ich will dich nicht mit in diese Geschichte ziehen“, erkläre ich dennoch, entziehe ihm meinen Arm und betrete die Küche.
Dort hole ich ein Glas aus dem Schrank und fülle es mit kaltem Wasser. Ich nehme einen großen Schluck daraus. Dabei schließe ich die Augen und versuche meine aufgebrachten Nerven wieder zu beruhigen.
„Was für eine Geschichte? Ich will, dass du mir jetzt endlich sagst, was hier los!“
11
Cody
Es fehlt nicht mehr viel und ich verliere meine Nerven. Ich war noch nie für meine Ruhe bekannt, doch zu wissen, dass Rachel etwas in den letzten Jahren passiert ist, macht es nicht besser.
Meine Muskeln sind angespannt, sodass es mir selber schon fast vorkommt, als würden sie gleich reißen.
Ich bin wütend und gerade fällt es mir schwer, diese Wut für mich zu behalten. Je länger ich keine Ahnung habe, was hier gespielt wird, umso schlimmer ist es.
Ich sehe Rachel auf eine Weise an, die ihr klar zu verstehen gibt, dass ich es ernst meine. Ich werde erst dann nachgeben, wenn sie mir die Wahrheit gesagt hat. Doch genauso erkenne ich, dass sie es eigentlich nicht für sich behalten will. Sie will sich mir anvertrauen und mir sagen, woher ihre ganzen Verletzungen kommen. Und das ist der Punkt, bei dem ich ansetzen muss.
Zuerst muss ich mich aber wieder unter Kontrolle bekommen. Mir ist nämlich bewusst, dass ich keinen Schritt weiterkomme, wenn ich kurz davor stehe, auf irgendetwas einzuschlagen.
„Ich will dir helfen“, sage ich und sehe sie abwartend an. Sie soll wissen, dass sie das Tempo bestimmt. Dabei ist es egal, wie es mir eigentlich geht. Doch hier geht es um sie und nicht um mich. „Das kann ich aber nur, wenn du mir sagst, was hier los ist. Du weißt, dass ich dich beschützen werde.“
Ich erkenne den Kampf in ihren Augen. Ihr fällt es nicht leicht, die Worte für sich zu behalten. Um es ihr noch schwerer zu machen, mache ich einen Schritt auf sie zu und verringere den Abstand zwischen uns.
Vor meiner Verhaftung habe ich es jedes Mal geschafft, sie so aus ihrem Gleichgewicht zu ziehen. Und ich hoffe, dass es auch dieses Mal so ist.
Allerdings brauche ich nur einen Blick in ihr Gesicht zu werfen