Sie seufzte. Keine Zeit für sentimentale Gedanken. Ziemlich sicher war sie drei oder vier Meilen weit vom Siegel entfernt. Die Welle – oder besser Ferrn Tarn – hatte sie alle von dort herunter gefegt. Die Präsenz des Arkanisten von Narfahel war überdeutlich gewesen.
Er beschützte sein Land noch immer. Der Wahnsinn in seiner Stimme hatte ihre Sinne überflutet und ihr das Bewusstsein geraubt.
Zunächst sah sie sich daher gründlich um. Seine Präsenz mochte noch immer in der Nähe sein.
In ihrer unmittelbaren Umgebung waren nur Büsche und schlammiger Grund. Kein einziger Blutbaum wankte in der Nähe umher. Es war eisig kalt, wie sie jetzt erst bemerkte. Ihre Kleidung war durchnässt und sie zitterte. Wieder versenkte sie die Hände im Schlamm. Sie erinnerte sich an das warme Fell eines Höhlenbären, mit dem sie früher einmal einen Bau geteilt hatte. Sie spürte, wie sich ein zarter Flaum auf ihrer Haut bildete, dann sprossen einzelne Haare. Immer mehr und immer dichter wurden sie, bis Anaya von zottigem Fell bedeckt war.
Fast sofort verschwand das Gefühl von Nässe und Kälte. Zufrieden schritt sie den nächsten, kleineren Hügel in Richtung Stadt hinauf.
1 - 3 Eine Mahlzeit -
Ein scharfer Schmerz bohrt sich in ihren Knöchel. Ein Ruck zerrte an ihr, der sie aus dem Nichts ihrer Ohnmacht befreite.
Mühsam versuchte sie, die Augen zu öffnen. Sie hatte nur bei einem Erfolg. Das andere wurde von irgendwas blockiert.
Schlamm.
Das war alles, was sie zunächst sah. Dann gab es wieder einen plötzlichen Ruck an ihrem Bein.
Die Schmerzen, die durch ihren Körper schossen, weckten sie vollends auf. Sie hing kopfüber in der Luft, in der Krone eines Baumes. Langsam hob sie den Blick vom Boden, gerade rechtzeitig, um das riesige Maul vor sich zu entdecken, das sich soeben im Stamm auftat. Eine zähe Ranke zerrte sie Stück für Stück darauf zu.
Drei Reihen Zähne schnappten gierig nach ihr und eine schleimige Zunge züngelte sabbernd dazwischen nach ihr, wie ein Blutegel, der Witterung aufgenommen hatte.
Andere Ranken griffen bereits nach ihren Armen. In wenigen Augenblicken würde sie vollständig darin gefangen sein.
Sie versuchte, das Feuer in ihrem Inneren zu erwecken, doch wie bei nassem Holz wollte der zündende Funke nicht so recht Halt finden. Da erst bemerkte sie, dass sie vor eiskaltem Wasser nur so triefte. Schlamm verklebte ihre Haare und zog ihre Kleidung nach unten. Blitzschnell wurde ihr klar, dass sie der Blutbaum nur deshalb noch nicht verschlungen hatte, weil er Probleme mit ihrem Gewicht hatte. Sie zappelte so gut sie konnte, um es den Ranken schwerer zu machen, sie zu erreichen. Es funktionierte.
Dabei kam sie nur dem Maul immer näher. Die Zunge konnte sie beinahe berühren. Aufgeregt sabberte das Maul im Angesicht der nahen Beute. Der Atem stank nach verwesendem Fleisch und verdorbenem Blut.
Panisch versuchte sie wieder, sich in Flammen zu hüllen, doch die Kälte der Sachen, die sie trug, verhinderte, dass es ihr gelang.
Wieder zog die Ranke um ihr Fußgelenk sie näher zum Ziel. Die pinkfarbene Zunge leckte ihr einmal durch das ganze Gesicht, als ihre zappelnden Bewegungen sie kurz zu nahe heran brachten. Die übrigen Äste und Ranken bogen sich nach innen, um ihr den Bewegungsspielraum zu nehmen. Ein erregtes Zischen entwich dem Maul der Kreatur. Phyria musste darum kämpfen, sich nicht zu übergeben, während ihr der klebrige Speichel langsam über die Wange rann.
Ihre Gedanken rasten, was war zu tun? Sie musste überleben. Sechs Siegel warteten noch auf sie. Versagen war keine Option. Gefressen werden erst recht nicht. Sie hatte die Dämonen überlebt, die ihre Heimat verwüstet hatten.
Verglichen damit war das hier nichts. Sie erinnerte sich an den Tag des Überfalls auf das Kloster, an die Schafe, an die schwarz gekleideten Soldaten…
„Nein.“
Sie schlug ihre Augen auf und blickte ruhig genau in das Maul des Blutbaumes. Eine blaue, beinahe weiße Flamme schoss aus ihren Händen genau hinein. Die Hitze war so gewaltig, dass die Kreatur praktisch explodierte. Gekocht von den eigenen Säften brach die Borke auseinander. Kleine Flammen züngelten aus den Rissen, die Äste und Ranken verkohlten so schnell, dass sie noch in der Luft hing, als eine riesige Stichflamme oben aus der Krone hervorbrach und die gesamte Kreatur einhüllte.
Phyria wurde fallengelassen, weil die Ranke, die sie festgehalten hatte, vom Rumpf abgerissen wurde. Noch bevor sie auf dem Boden landete, war der schlammige Sumpf zu steinhartem Lehm vertrocknet. Der Aufprall raubte ihr den Atem. Mühsam rappelte sie sich wieder auf.
Gerade rechtzeitig, um den Baum krachend umstürzen zu sehen. Zu ihrer Erleichterung bemerkte sie dabei, dass er nicht mehr dazu gekommen war, um Hilfe zu rufen.
Sie trat näher an die brennenden Reste heran. So wie er brannte, machte er nicht den Eindruck eines intelligenten Wesens. Auch der Brandgeruch sagte eindeutig Holz.
Zufrieden über die Erkenntnis trat sie noch näher, um ihre Kleidung von der Wärme des Feuers trocknen zu lassen. Dabei warf sie einen ersten Blick in die Ferne.
Trostloser Sumpf voller schlammiger Hügel und verdorrter Pflanzen erwartete sie bei hereinbrechender Nacht in jeder Richtung. Nirgends eine Spur ihrer Gefährten. In der Umgebung lag die Insel im Fluss, auf der sich das Siegel befand. Das felsige Plateau ragte mitten in der Stadt empor. Sonst hatte sie keine Anhaltspunkte zur Orientierung. Schlagartig wurde ihr bewusst, wie schlecht sie auf das Leben in der Wildnis vorbereitet war.
Fröstelnd trat sie zwischen die Flammen.
Vollkommen regungslos verharrte er im Schatten eines frisch erlegten Blutbaums. Die vielen, kleinen Wunden überall an seinem muskulösen Körper störten ihn nicht mehr als Mückenstiche. Der Kampf war kurz und brutal gewesen, doch am Ausgang hatte von Anfang an kein Zweifel bestanden. Nur sehr wenige Kreaturen waren einem Kargat im Kampf gewachsen. Schon gar nicht, wenn sie den Angreifer zu spät bemerkten. Nur in einem Punkt hatte Shadarr sich geirrt. Der Leichensammler, wie die verfluchten, fleischfressenden Bäume auch genannt wurden, war alles andere als schmackhaft. Nach ein paar Bissen hatte er den Rest wieder ausgespuckt. Ein Schrank schmeckte auch nicht besser.
Seine kleinen Augen glänzten von wacher Intelligenz, die man bei einer klauenbewehrten Bestie seiner Größe nicht erwarten würde.
Aufmerksam beobachtete er einen kleinen Trupp Blutbäume, der ganz in seiner Nähe ungeschickt durch einen brackigen Bachlauf wankte. Dahinter erhoben sich flache Hügel aus der monotonen Sumpflandschaft. Der Gestank des verdorbenen Wassers mischte sich mit den fauligen Ausdünstungen des toten Baums zu einer kaum erträglichen Geruchskomposition. Trotzdem bewegte Shadarr keinen Muskel. Nur die Nasenflügel bebten hin und wieder kaum merklich.
Er witterte durch die zehn Nasenlöcher dutzende unterschiedliche Noten aus dem Geruch heraus. Dazu konnte er genau sagen, wie weit die einzelnen Geruchsquellen entfernt und wie alt die Spuren waren.
Nichts entging ihm. Er war der beste Jäger des Rudels und der stärkste noch dazu. Dennoch war ein Anderer der Rudelführer. Shadarr erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Beinahe hätte er Drakkan als Beute verschlungen. Erst im letzten Augenblick hatte er dessen Herkunft erkannt und so hatten seine Klauen ihn nur gestreift.
Danach war der Kampf sogar beinahe ausgeglichen gewesen. Seit diesem Ereignis reisten sie gemeinsam.
Drakkan glaubte, die telepathische Verbindung zwischen ihnen wäre Shadarrs Werk, doch das war falsch. Er hatte lediglich dafür gesorgt, dass Drakkan sich an sein Erbe erinnerte. – Nicht an das dämonische, an das Andere.
Daher wusste er auch, wo ungefähr Drakkan gerade war und wie weit entfernt. Die Flutwelle hatte sie auseinander gerissen. Fünf Meilen trennten sie bereits und es wurden stetig mehr. Zeit aufzubrechen.
In einer geschmeidigen Bewegung, langsam und zugleich kraftvoll, erhob er sich. Die Blutbäume bemerkten ihn nicht, sie wankten weiter ziellos umher.
Gerade als er sich in Bewegung setzen wollte, drang der schwache Geruch