Personenverzeichnis
Einführung
Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte begonnen. In Europa war eben erst der Siebenjährige Krieg zu Ende gegangen, in dem der preußische König Friedrich II. in einer Allianz mit England gegen Frankreich, Österreich, Schweden und Russland verloren hatte. Nur der plötzliche Tod von Zarin Elisabeth, in dessen Folge der Friedrich wohlgesonnene Petr III. den Thron bestiegen hatte, rettete Preußen vor einer endgültigen Niederlage. Petr III. ordnete den Rückzug der bereits in Berlin stationierten Truppen an und bereitete dem sinnlosen Krieg damit ein Ende. Nach der Weigerung Österreichs, die von ihm besetzten Gebiete zurückzugeben, drängten die Russen in der nun entstandenen Allianz mit den preußischen Streitkräften die Österreicher aus Schlesien und Sachsen zurück und zwangen sie, einen Friedensvertrag mit Preußen zu unterzeichnen.
Zu jener Zeit war Deutschland noch kein einheitlicher Staat. Mehrere hundert unabhängige Fürstentümer nahmen zwar ein zusammenhängendes Gebiet in Zentraleuropa ein, waren jedoch nur schwach miteinander verbunden und gehörten zum „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“. Der soeben zu Ende gegangene Siebenjährige Krieg und der Dreißigjährige Krieg, der zuvor in Europa gewütet hatte, führten zu einer abrupten Verarmung des Volkes, zur Erschöpfung seiner Lebenskraft und dazu, dass sich bei weiten Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Ausweg- und Perspektivlosigkeit eingestellt hatte.
Mit Beginn des 18. Jahrhunderts bildete sich in Europa zunehmend ein stabiles Migrationssystem mit festen Migrationstraditionen bei der Bevölkerung heraus. Diese verlegte ihren Wohnsitz sowohl innerhalb der eigenen Länder als auch in jenseits der jeweiligen Staatsgrenzen gelegene Gebiete und legte auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben große Entfernungen zurück. An der Entstehung dieser europäischen Migrationssysteme waren die Bürger der voneinander getrennten deutschen Staaten und Fürstentümer besonders aktiv beteiligt. In großer Zahl zogen sie aus den überbevölkerten Gebieten in weniger dicht besiedelte Regionen um. Somit war die deutsche Bevölkerung gegen Mitte des 18. Jahrhunderts bereits in wesentlichem Maße auf die Emigration in weit entfernte und unbekannte Länder vorbereitet. Im Zusammenspiel mit einer Reihe weiterer Faktoren, die im vorliegenden Buch detailliert behandelt werden, war eine solche Mobilität der Bewohner der deutschen Ländereien die Hauptursache für deren Massenemigration, die hinsichtlich ihrer Größenordnung und ihrer Strömungen einzigartig war. Die hauptsächliche Strömung bewegte sich dabei nach Osten und Südosten und stand im Vergleich zur nordamerikanischen Strömung an erster Stelle. Verschiedene Schätzungen gehen davon aus, dass sich damals etwa 400.000 bis 500.000 deutsche Kolonisten auf den Weg nach Ost- und Südosteuropa machten und sich mehrheitlich im damaligen Ungarn und in Russland niederließen.
Die Monarchen dieser Länder folgten dem Beispiel des preußischen Königs Friedrich der Große, der nach seinen Vorgängern eine aktive Populationspolitik (Peuplierungspolitik) verfolgte und den Umsiedlern zahlreiche Privilegien gewährte, wodurch er ausländische und vor allem deutsche Staatsangehörige ins Land zu locken versuchte. Er befreite die ersten drei Generationen der ankommenden Kolonisten vom Kriegsdienst, senkte die Steuern und übernahm die Kosten für die Umsiedlung, die Bodenmelioration und den Bau von Wohnhäusern für sie. Für diese Ziele wandte er immense Mittel auf und bewies eine für jene Zeit einzigartige religiöse Toleranz, indem er den Neuankömmlingen materielle Unterstützung und die staatlich geschützte freie Religionsausübung zusicherte. Die aktive preußische Peuplierungspolitik, die bereits im 17. Jahrhundert mit dem Potsdamer Edikt begonnen hatte, dauerte ungefähr 150 Jahre und endete im 19. Jahrhundert mit dem Beginn der deutschen Industrialisierung.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts bildet die Emigration der deutschen Bevölkerung über den Ozean in die Länder Nord- und Südamerikas die wesentliche und beherrschende Strömung. Die Auswanderer aus Deutschland stellten auch zu dieser Zeit den Hauptanteil der Massenemigration, welche die Bevölkerung zahlreicher europäischer Staaten ergriffen hatte. Expertenangaben zufolge kehrten etwa 52 Millionen Menschen von 1824 bis 1924 in den Jahren der Massenemigration in die jenseits des Ozeans gelegenen Gebiete Europa den Rücken. In dieser Zeit entschieden sich von 1920 bis 1928 auch 5,9 Millionen deutsche Bürger für diese Richtung der Emigration. 89,8 % davon ließen sich in den USA nieder. Die deutsche Emigration in die jenseits des Ozeans gelegenen Gebiete vollzog sich in mehreren Phasen und dauerte ebenfalls ungefähr 150 Jahre bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.
In diesem Buch wird der lange und gefahrenreiche Weg der deutschen Kolonisten in verschiedene weit entfernte Länder beschrieben. Die Zeit unterwegs war für sie durch Hunger, Kälte und zahlreiche Krankheiten gekennzeichnet. Die Beharrlichkeit und Besessenheit vieler tausend Menschen, die monatelang, ja manchmal jahrelang unterwegs waren, dabei Kinder, Angehörige und nahestehende Menschen verloren und dennoch ihre heißersehnten Ländereien erreichten, auf denen sie sich den Beginn ihres neuen Lebens erträumten, ruft schlichtweg Begeisterung hervor.
Die massenweise Emigration der deutschen Kolonisten hatte damals viele Ursachen. Das vorliegende Buch beruht auf dem Wesen dreier globaler Ursachen der Massenemigration. Diese lauten wie folgt:
• politische und ökonomische Schwäche der zahlreichen voneinander getrennten deutschen Staaten und Fürstentümer, Fehlen eines vereinigten Staates mit gemeinschaftlich organisierter Sicherung der Außengrenzen und einheitlichen Emigrations- und Zollgesetzen;
• fehlende koloniale Besitztümer aufseiten Deutschlands zu jener Zeit (während mehrerer anderen europäischen Staaten solche besaßen) und damit fehlende Möglichkeiten, diese für die Umsiedlung der eigenen „überschüssigen“ Bevölkerung zu nutzen;
• vergleichsweise später Beginn der industriellen Revolution im Land. Infolgedessen war die Möglichkeit, der schnell wachsenden ländlichen Bevölkerung eine Anstellung in den verschiedenen Industriebranchen zu bieten, nicht gegeben.
Diese globalen Ursachen bestimmten in wesentlichem Maße das Wirken und die Bedeutung der Ursachen zweiten Grades, zu denen verschiedene politische, religiöse, ökonomische und persönliche Auswanderungsmotive zu zählen sind. Die massenweise Ausreise der Deutschen nach Russland nahm mit Veröffentlichung der Manifeste der russischen Zarin Katharina II. (der Großen) in den Jahren 1762 und 1763 ihren Anfang. Darin rief sie ausländische Staatsangehörige zur Übersiedlung nach Russland auf. Sie garantierte ihnen das Recht auf freie Berufs- und Standortwahl, die Zuteilung fruchtbarer Ländereien, freie Religionsausübung und den Erhalt der eigenen Sprache, die Befreiung vom Kriegsdienst, Selbstverwaltung, finanzielle Unterstützung und Steuervorteile. Die Kolonisationspolitik Katharinas II. wurde von ihrem Sohn Pavel I. und insbesondere von ihrem Enkel Alexander I. fortgesetzt. Die Übersiedlung deutscher Staatsangehöriger nach Russland dauerte etwa 100 Jahre lang an. In dieser Zeit entstanden deutsche Siedlungen in den wilden Steppen des Wolgagebiets, in der Nähe von Sankt Petersburg und Woronesch, im Schwarzmeergebiet, in Bessarabien, in der Walachei, am Don, im Nordkaukasus und im Hinterland des Kaukasus, am Ural, in Sibirien, Kasachstan und Mittelasien. Die deutschen Siedlungen nannte man damals Kolonien, ihre Bewohner Kolonisten. Durch ihren langen und unablässigen Einsatz verwandelten sie die einst öden Steppengebiete und die wenig bis gar nicht erschlossenen Landstriche in wirtschaftlich entwickelte Gebiete mit blühenden Siedlungen und trugen insgesamt in erheblichem Maße zur allgemeinen Entwicklung Russlands bei, welches für sie zur Heimat geworden war.
Die gleichzeitig erfolgende, gesamtheitliche Auseinandersetzung mit Fragen, die die Übersiedlung der deutschen Kolonisten betreffen, ermöglichte es, allgemeine Merkmale und Besonderheiten dieses unter geografischen (in den Ländern Mittel-, Südost- und Osteuropas) und zeitlichen (sich in mehreren Etappen vollziehenden) Gesichtspunkten einzigartigen historischen Phänomens aufzuzeigen und darzustellen.
Das Buch stellt die These auf, dass zu jener Zeit ein harter Konkurrenzkampf um die deutschen Kolonisten stattfand, von dem die Bedingungen, zu denen sie von den Monarchen und Regierungen verschiedener Länder eingeladen wurden, direkt abhängig waren. Diese boten ihnen zahlreiche Vergünstigungen und Privilegien an. Dasselbe galt für die nicht immer legalen Vorgehensweisen und Methoden der zahlreichen Anwerber dieser Länder, welche die deutschen Übersiedler mit erlogenen Geschichten vom Paradies auf Erden und dem Land, wo Milch und Honig