Die Mutter ging wieder schlafen und Kathi musste dort zwei Stunden stehend ausharren. Dabei wurden die Beine so schwer und müde und sie hätte sich gern ein wenig hingehockt. Einfach nur mal kurz in die Knie gehen. Aber die Angst, dass die Mutter genau in dem Augenblick die Tür aufriss und es sah, war zu groß. Die Einrisse in dem kleinen Oberarm brannten noch zu sehr.
Eine neue Süßigkeit kam auf den Markt, die sogenannte Schleckmuschel. Sie kostete einen Groschen, war herzförmig und aus Plastik. Innen war ein harter Bontsche, wie man in Hamburg sagt, hineingegossen. Das Wort Bonbon kannte man im Norden damals nicht. Man konnte nach Herzenslust daran lecken und der Bontsche darin wurde nur wenig kleiner. Oder Kathi legte sie einfach irgendwo hin und schleckte sie nach dem Essen weiter. Das war toll. Sie freute sich unbändig, weil man so lange etwas davon hatte.
Kathi hatte so eine Leckmuschel von Frau Voigt geschenkt bekommen.
Nun schleckte Kathi also stolz und intensiv an der Muschel. Das harte Innere löste sich dabei aus der Plastikmuschel. Sie schob das Stück im Mund hin und her. Eigentlich war es viel zu groß. Und da war es auch schon geschehen. Der Bontsche rutschte in den Rachen, saß dort fest und eh sie es sich versah, war er verschluckt. War sie schon wieder zu gierig? Das Stück rutschte nicht tief hinunter und blieb in ihrem Schlund stecken. Sie bekam keine Luft mehr, rannte zu Britta ins Zimmer, zeigte immer wieder auf ihren Hals und bekam Panik, da die Luftröhre zugedrückt wurde. Es tat furchtbar weh und drückte. Kathi deutete per Gestik an, indem sie die Schleckbewegung nachmachte, dass es die Muschel war, die da nun im Halse steckte. Konnte aber nicht sprechen und nicht richtig atmen.
Sofort lief Britta zur Mutter, die den Vater anrief. Dieser kam eiligst mitten aus dem Dienst und fuhr mit Kathi ins Jüthornkrankenhaus. Dort wurde die Situation durch den Vater geschildert und Kathi wurde stehend durchleuchtet. Dafür stand sie nur in Unterwäsche bekleidet vor einer Kiste. Auf der anderen Seite schaute der Arzt durch. Das war schon sehr aufregend. Langsam wurde der Druck und das schwere Luftholen etwas besser, da der riesige Bontsche sich allmählich auflöste und kleiner wurde. Und dann hieß es, sie müsse zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben.
Sie dürfe auch nicht auf Toilette, sondern wenn sie „groß“ musste, sollte sie auf einen metallenen, kalten Topf mit Stiel, in eine Bettpfanne machen und der Stuhl würde durchgesiebt werden. Wenn die Muschel dann den normalen Weg nach draußen gefunden hatte, dürfe sie auch nach Hause.
Kathi ging es stündlich besser. Der Vater war gefahren, um ein paar Sachen für das Krankenhaus zu bringen.
Kathi kam in ein Vierbettzimmer auf die Kinderstation. Die anderen Mädchen waren nett zu ihr, sagten gleich „Hallo“. Als sie morgens das Frühstück sah: Brötchen, Honig, Marmelade, lachte ihr Herz und ihr Bauch! Es war wieder so paradiesisch! Kathi begann langsam zu verstehen, dass alle dachten, sie hätte das Äußere, die große Plastikmuschel verschluckt. Sie wusste nicht einmal, wo sie sie gelassen hatte, aber das war nun egal. Es war ihr zu peinlich, dieses Missverständnis im Krankenhaus aufzuklären. Sie wäre im Erdboden versunken.
Ihr ging es besser, sie bekam wieder Luft und es war für sie fast unbegreiflich, dass dieser schreckliche Druck in Hals und Brust sich tatsächlich ganz von selbst gab und verschwunden war. Kathi blieb drei Tage im Krankenhaus, die sie genoss. Die Abführmittel brachten außer Bauchkneifen keinen Erfolg, denn es war da natürlich kein einziges Plastikstückchen der Muschel im Stuhl.
Als die Eltern sie abholten, schauten sie Kathi nur böse, vorwurfsvoll und ungläubig an und sprachen zunächst kein Wort mit ihr.
Kathi schämte sich entsetzlich. Drei Tage lang hatten die Eltern Sorge um sie, drei Tage Krankenhaus, während alle sich um sie gekümmert hatten. Und sie konnte vor Scham und Furcht nicht die Wahrheit, nicht das Missverständnis erklären.
Als sie zu Hause versuchte darüber zu sprechen, dass sie doch nie die Plastikmuschel gemeint hatte, wurde ihr nicht geglaubt. Es schien für die Eltern den Anschein zu haben, dass sie gern im Krankenhaus war und es deshalb von ihr erfunden wurde. Der Vater, der immer gern mit Sprichwörtern aufwartete, sagte nun: „Merke dir das für alle Zeiten: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“
Wie lange dieser Spruch Kathi gedanklich und schmerzlich begleiten würde, das war für sie damals noch nicht vorstellbar. Denn dieser Satz traf besonders auf den Vater zu.
AUẞENWELT
Die Mutter stand an der Wohnungstür. Sie erwartete Gäste. Das kam eher selten vor, nur zu besonderen Anlässen. Heute war ihr Geburtstag. Herausgeputzt und betörend schön war sie. Die Schwestern liebten sie dann besonders. Schauten verstohlen auf diese attraktive Frau, von der viele sagten, dass sie eine Mischung aus Elizabeth Taylor und Sophia Loren sei. Die Kinder kannten beide nicht.
Sie hatte ein neues Kleid an mit großen bunten Blumen darauf. Ganz eng in der Taille und glockig weit um Hüften und Beine. Es sah so hübsch aus! Ihre strahlend grünen Augen zu den schwarzen Haaren, war umwerfend. Der Papa, ebenfalls groß und schlank, hatte zwar „Geheimratsecken“, wie die Mama zu sagen pflegte, aber ebenfalls schwarze Haare und blaue Augen. Es war ein Paar, was einfach sehr schön anzusehen war. Dann die blond gelockte Kathi mit ihren strahlend dunkelblauen Augen, Britta, ebenso blauäugig, nur mit sehr dunklem, langem Haar. Es war die perfekte Vorzeigefamilie.
Kathi stand etwas hinter Mutters Rockzipfel, atmete den Duft von Fenjala ein. In diesem Cremeölbad badetet die Mutter zu nicht alltäglichen Gelegenheiten. Sie schaute bewundernd zur Mama auf und sagte ihr, wie schön sie sei und wie herrlich sie dufte. Das stimmte die Mama besonders glücklich. Freundlich sagte sie: „Kinder, geht jetzt mal in Eure Zimmer und wartet dort.“
An der Tür läutete es und nacheinander traten die Gäste ein.
Tanten und Onkel, die sogenannten Nenntanten und Nennonkels, die Freunde der Eltern. Schön war es immer, weil sie Schokolade mitbrachten. Eine Tafel, die sich die Schwestern teilen mussten. Kathi und Britta träumten davon, einmal je eine Tafel ganz für sich allein zu haben.
Cousinen und Cousins und die Kinder der Freunde kamen. Oma und Opa brachten Rittersport für die Schwestern – jede eine Schokolade für sie allein mit! Die war zwar kleiner und quadratisch, die Sorte Trauben-Nuss, mit den Rosinen darin mochten sie nicht wirklich. Aber wichtig war, dass sie süß schmeckte, das war genug zum Freuen.
Ein großes Hallo und Durcheinander herrschte auf dem Flur.
Kathi und Britta durften nacheinander alle Erwachsenen mit Knicks begrüßen. Die Tanten drückten ihre feuchten Münder auf deren kleine, sich widerstrebenden Schnuten. Kathi wischte mit dem Handrücken ungeniert den Mund ab, weil sie sich ekelte. Normalerweise fing sie sich deshalb eine Ohrfeige von der Mutter ein, aber wenn Gäste da waren, hatte sie Glück! Das wusste und erleichterte sie. Alle gingen in das Wohnzimmer, wo ein großer Tisch für die Erwachsenen und ein kleiner, so genannter „Katzentisch“ mit Kinderstühlchen und Hockern drumherum aufgebaut waren.
Die Mutter kommandierte charmant, aber sehr bestimmt, wie jedes Mal, die Kinder ins Badezimmer zum Händewaschen. So musste, wie bei einer Polonaise, das hintere Kind dem vorderen auf die Schultern fassen und warten, bis nacheinander alle die Hände gewaschen hatten. Die Kinder bekamen „Kalte Schnauze“, Kathis Lieblingskuchen, aus Schoko und Leibniz-Keksen. Die Erwachsenen aßen Torte und Windbeutel.
Alles war friedlich und in Ordnung. In den Kinderzimmern wurde weitergespielt. Höhle bauen. Unter Stühlen und Tischen machte das besonders viel Spaß. Oder Versteckspielen. Auch wenn man die laute Stimme der Mutter oft durchdringend und am häufigsten hörte, waren die Schwestern sehr stolz auf ihre Mutter und wussten, sie hatten nichts zu befürchten. Das waren die Momente, in denen sich eine kleine Entspannung, Erleichterung und eine warme Welle der Freude in Kathi ausbreiten