Bittere Erdbeeren. Katharina Gato. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katharina Gato
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742770066
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      Die Mutter war stolz darauf gewesen, dass ihre Kleinste mit nun zweieinhalb Jahren bereits komplett sauber war und aufs Töpfchen ging. Sie war die Jüngste in der großen Kindergruppe mit über sechzig Kindern.

      Kathi verstand nicht was VERSCHICKUNG bedeutete. Warum musste sie weg, von der geliebten Schwester, von ihrem Zuhause?

      Ankunft. Ein großer Raum. Der Speisesaal. Lange Holztische mit kleinen und großen Holzstühlen. Es roch gut dort. Nach Kartoffelbrei und Fischstäbchen.

      Kathi hatte großen Hunger und sie liebte Kartoffelbrei. Und Fischstäbchen? Hatte sie nur zweimal bisher gegessen. Ein Traum wurde wahr. Sie saß an einer langen Tafel zwischen all den größeren Kindern.

      Da lag nun das Kinderbesteck neben ihrem Teller. Kathi konnte damit noch nicht essen und versuchte mit einer Hand und der Gabel, die Fischstäbchen zu zerkleinern. Tränen blockierten ihren Hals, so dass sie weder essen noch weinen konnte. Eine Fremdheit, Hilflosigkeit und ein tiefer Schmerz, der sich wie eine Säure durch sie hindurch fraß.

      Plötzlich packte sie die Frau aus dem Bus am Arm und zerrte Kathi mit den Worten: „Wer nicht essen kann, hat am Tisch nichts verloren“, grob vom Stuhl. Sie brachte Kathi in einen großen Schlafsaal mit vielen Betten. Dort wurde sie in ein Bett gelegt, das Gitter hochgezogen und aufgefordert, Mittagsschlaf zu machen. Es rollten die Tränen über die roten runden Wangen und Kathi schrie und weinte immer wieder nach ihrer Mama.

      Die anderen Kinder kamen etwas später und mussten sich ebenso in ihre Betten legen und schlafen. Kathi weinte sich in den Schlaf und hörte und verstand die gemeinen Worte der Erzieherin nicht.

      Plötzlich erwachte Kathi durch das Gefühl, dass das Bett und ihre Hose nass waren. Ein Schrecken durchfuhr sie!

      Es war anders als vorher zu Hause, wo das manchmal noch passierte, weil sie träumte, sie säße auf dem Töpfchen. Nun lag sie ganz still und rührte sich nicht. Spürte die inzwischen erkaltete Pippi und die nasse Hose. Nach einer für sie endlos langen Zeit wurden alle Kinder geweckt. Als die Erzieherin das Unglück sah, wurde sie richtig böse. Die Mutter hätte ihr versprochen, dass Katharina aufs Töpfchen gehe und dann das! Sie sei ja noch ein Baby und nun gibt es eben wieder Windeln. Die Erzieherin verspottete Kathi und die Kinder lachten. Kathi weinte und schluchzte, dass sie nach Hause wolle, zur Mama.

      Die Antwort der Erzieherin traf abgrundtief und brannte sich ein: „Deine Mama und auch niemand anderes will dich, denn du machst ja noch ins Bett und nur Arbeit und Ärger!“

      So ganz war Kathi die Bedeutung der Worte nicht klar, aber so viel verstand sie: Dass kein Mensch sie mehr wollte.

      Daumen lutschend und mit Windeln saß sie häufig in der Ecke, hatte keine Freude am Spiel, nur dieses unendliche Heimweh. Sie spürte, dass kein anderes Kind sie wollte, und es breitete sich eine trostlose Einsamkeit in ihr aus. Tiefe Trauer durchdrang sie und ohne, dass sie es wollte, trotz aller Anstrengungen, blieb sie dort Bettnässerin. Sie hätte es so gern geändert, aber sie wusste nicht WIE.

      Diese Erzieherin hieß Frau Bause, was sie an „Brause“ erinnerte, wo es doch das seltenste und schönste Gefühl auslöste, sich an diesen süßen Geschmack zu erinnern, den sie erst ein einziges Mal in ihrem Leben kosten durfte.

      „Ich habe die Nase gestrichen voll von dir“, fluchte Frau Bause, als sie wieder einmal Kathis Windeln wechseln musste. Sie klatsche Kathi die nasse Windel an den Kopf und zerrte sie in den Keller, den sie schon mehrfach angedroht hatte, wenn Kathi weiterhin einnässen sollte.

      Frau Bause machte ihr laut und deutlich klar, dass sie nun dort, nur in ihrer Unterwäsche, im dunklen Keller bei Ratten und Mäusen bleiben müsse, bis sie nicht mehr einnässen würde. Sie wird frieren und hungern, die Mäuse an ihr nagen, aber es sei immer noch besser, als nirgendwo zu sein, denn ihre Familie wolle sie ja nicht mehr.

      Kathi saß im Dunkeln auf einer ausrangierten Turnbank, lauschte auf jedes Geräusch mit angezogenen Beinen, damit die Mäuse, wenn sie dort wirklich herumliefen, nicht an ihren Füßen nagen konnten. Den Kopf zwischen den Knien flach und leise atmend, hatte sie nur einen stummen, erstickten Schrei in sich, der nicht herauskonnte. Vor Angst, vor Schreck, vor Trauer, vor dem großen stummen Nichts in ihr.

      Kathi erinnerte sich daran, dass sie schreiend und frierend nach gefühlter unendlich langer Zeit von einem Mann heraufgeholt wurde. Dieser wusch sie und zog ihr die schwarze, kurze Turnhose und das kurzärmelige gerippte Turnhemd an. Dann nahm er sie an die Hand und führte Kathi in einen großen Raum, wo schon andere Kinder am Boden auf Matten lagen. An der Decke war sogenanntes Rotlicht mit Ozon. Es war warm, es roch fremd, es tat irgendwie gut auf ihrem von Gänsehaut überzogenen Körper. Und es war ein Gefühl, das Chaos in ihr auslöste. Ein Nichtverstehen von widersprüchlicher, gleichzeitiger Grausamkeit und Wärme.

      Kathi war lange in dem evangelischen Heim in Cuxhaven. Waren es nur sechs Wochen? Gefühlte zwei Jahre? Alles veränderte sich in ihr. Sie lernte in dieser Phase der Verschickung nichts weiter als: Gefühlschaos. Einsamkeit. Verzweiflung. Hysterie.

      Die Verschickung endete. Die ganze Busfahrt über war sie im Ungewissen, in schrecklicher Angst, was nun mit ihr geschehen, wie es weitergehen würde. Sie wusste, dass die anderen Kinder abgeholt werden am Bahnhof. Alle sprachen davon und freuten sich darauf. Kathi kauerte am Fenster und schaute hinaus.

      Die Erinnerung an die Ankunft am Busbahnhof blieb ihr unvergesslich: Mama, Papa, Britta standen draußen und winkten ihr zu. Kathi wischte sich über die Augen. Das konnte doch nicht sein!?

      Diese zarte Seele konnte das nicht verstehen, nicht verkraften. Es wurde ihr immer und immer wieder eingehämmert von Frau Bause, dass sie keiner will, es kein Zuhause mehr für sie gäbe. Und da standen sie!

      Kathi, schrie und klopfte an das Busfenster: „Mama, Papa, Britta!“ Dabei weinte sie und lachte. „Mama! Papa! Britta!“ Es war ein ganz neues, ungekanntes Gefühl. Und als die Mutter sie draußen als erste in die Arme schloss, lernte Kathi das erste Fremdwort: Hysterisch. „Kind, mein Gott, du bist ja vollkommen hysterisch!“

      DIE MUTTER

      Die Mutter verstand ihre Kinder nicht mehr. Britta erzählte wenig von ihrer Verschickung. Sie war wie gewohnt still und in sich gekehrt. Irgendwie fand sie keinen wirklichen Zugang zu dieser Tochter, sie verstand sie einfach nicht. Und Kathi war bisher ein so fröhliches Kind gewesen, ein Sonnenschein. Und nun, nach der Verschickung? Sie hatte eine verängstigte, panische, bettnässende und daumenlutschende Tochter zurückbekommen, die sie nicht mehr kannte.

      Manchmal dachte sie darüber nach, dass es besser wäre, einen Psychiater mit ihr aufzusuchen, denn auch die Albträume in der Nacht waren wirklich schlimm für die Kleine. Und sie selbst bekam schließlich dadurch auch nicht genug Schlaf.

      Aber was sollten die Leute denken? Ein Psychiater? Ihre Tochter ist doch nicht verrückt!

      Ihr lag sehr viel an der Außenwirkung für sich und ihre Familie. Dem Vater oft noch mehr. Er nahm es übergenau mit allem. Wenn die Kinder am Tisch nicht ganz gerade saßen, schlug er sie auf den Rücken oder in den Nacken. Das Zucken der Kinder bei Tisch und die Abwehrhaltung ihrer Arme fand sie häufig bedrückend. Auch, dass die Kinder ständig bei anderen Leuten einen Knicks zur Begrüßung machen mussten, möglichst nicht einen einfachen, sondern mit einem Bein zurück und das Knie fast am Boden. So wie man es bei Hofe tut. Sie glaubte, dass es den Kindern, besonders Kathi, peinlich war.

      Und nun? Wie konnte sie Kathi helfen? Ach, aber vielleicht wird das auch schon wieder. Öfter mal in den Arm nehmen. Sie wird sich schon einleben. Es ist schließlich ihre Familie.

      Kathi und Britta hatten ein gemeinsames Zimmer. An jeder Wand stand ein Bett. Wenn die Eltern „Gute Nacht“ gesagt hatten und das Licht löschten, kam Kathi ganz schnell zu Britta ins Bett und schlüpfte unter ihre Decke. Immer und immer wieder musste Britta sich die Geschichten von Frau Bause anhören. Immer wieder: „Keller, Ratten, Mäuse, frieren, Mund zuhalten.“ Anfänglich nahm Britta ihre kleine Schwester in den Arm und versuchte sie zu trösten, aber es drang nicht zu Kathi durch und ihre Erzählung