Der Meerkönig. Balduin Möllhausen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Balduin Möllhausen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754176504
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vernahm sie, wie Merle von dem Hofe in das Hauptgebäude eintrat, und zugleich fielen ihre Blicke auf das Kind. Nur einen Augenblick besann sie sich, und dann rief sie dasselbe mit Angstvoller Stimme zu sich.

      »Riekchen,« begann sie bebenden Herzens, »Dein Vater schwebt in der gräßlichsten Gefahr, und Du mußt ihn retten! Du bist warm angezogen - schnell, schnell - hier, nimm mein Tuch und schlage es um Deine Schultern. Folge Deinem Vater nach, aber heimlich, ganz heimlich und leise; wenn er Dich sieht, ist es sein Unglück. Folge ihm nach und sieh, mit wem er zusammentrifft; suche die Worte zu erhaschen, die gesprochen werden, und dann, wenn Du glaubst, daß Alles vorbei ist, kehre wieder zu mir zurück. Geh' jetzt schnell, meine Tochter,« fügte sie hinzu, indem sie noch einen Kuß auf des Kindes Stirn drückte, »laß Dich nicht entdecken, und glaube Deiner Mutter, wenn sie Dir sagt, daß Du ein gutes Werk thust und der liebe Gott über Dich wacht. Fort jetzt, ich höre die Hausthür gehen, fort, oder Du findest ihn nicht wieder!«

      Das Kind, von jeher gewohnt, bis tief in die Nacht hinein die Straßen bettelnd zu durchstreifen, zeigte nichts weniger als Abneigung, der Mutter Gebot zu erfüllen, um so mehr, als es aus dem dringenden Tone instinctartig herausfühlte, daß es sich wirklich um eine Sache von der größten Wichtigkeit handle. Es schlug daher schnell das ihm dargereichte wollene Tuch um Kopf und Schultern, und seiner Mutter mit einem schlauen Lächeln zunickend, schlich es in seiner geräuschlosen und behenden Weise davon.

      Als die Frau sich allein sah, ließ sie das Haupt wieder, wie vor Mattigkeit, auf die Brust sinken und gleichsam willenlos faltete sie die Hände auf ihren Knieen.

      »Gott verzeihe mir, wenn ich mich an meinem armen Kinde versündige,« betete sie leise, »aber ich kann nicht anders! Vielleicht reiße ich ihn vom Rande des Abgrundes zurück, ehe er von ...«

      Ein Schauder durchrieselte sie; die Worte, die ihr auf den Lippen schwebten, vermochte sie nicht auszusprechen; ihre Hände klammerten sich fester in einander, und erfüllt von unnennbarer Angst begann sie die Minuten zu zählen, die Zeit zu berechnen, bis zu welcher ihre Tochter wieder zurück sein könne.

      Merle, nachdem er auf die matt erleuchtete Gasse hinausgetreten war, warf einen spähenden Blick um sich. Nur vereinzelte Personen verfolgten schweigend und hastigen Schrittes ihren Weg nach verschiedenen Richtungen hin, und unter diesen befand sich Niemand, der durch sein Benehmen Argwohn erweckt und zur Vorsicht gemahnt hätte.

      Er zog daher den Kragen seines Rockes noch höher empor, und zwar wohl mehr, um sein Gesicht zu verstecken, als daß er die Kälte sehr empfunden hätte, und dann schlug er eiligst die Richtung nach einem belebteren Stadttheile ein, immer sorgfältig das Licht der Laternen vermeidend, sobald er Menschen in der Nähe derselben gewahrte. Seine Bewegungen führte er dabei so natürlich aus, daß selbst der schärfste Beobachter nicht im Stande gewesen wäre, seine Absicht, unerkannt zu bleiben, zu errathen. Da er sich wohlweislich hütete, durch Rückwärtsschauen Aufmerksamkeit zu erregen, so entging es ihm auch, daß ein kleines, vermummtes, schattenähnliches Wesen ihm in sicherer Entfernung auf Schritt und Tritt nachfolgte und die geübten, scharfen Augen beständig auf ihn gerichtet hielt.

      Etwa zehn Minuten mochte der Gauner durch das Labyrinth von engen Gassen dahingeeilt sein, als er plötzlich in eine kurze, breitere, aber ebenfalls nur spärlich erleuchtete Straße einbog, in deren Mitte ein Gebäude thorwegartig die beiden Häuserreihen mit einander verband. Unter dem Thorwege bemerkte er mehrere Gestalten, einzelne, die gerade durch denselben hindurchschritten, zwei dagegen, welche etwas abseits standen und eifrig mit einander zu berathen schienen.

      Zu diesen letzteren, die, in weite Pelze gehüllt, nur einen geringen Theil ihrer Gesichter der kalten Nachtluft preisgaben, trat er festen Schrittes heran.

      »Verzeihen Sie, meine Herren,« sagte er höflich, den Rand seines Hutes leicht mit den Fingerspitzen berührend, »kann ich durch Ihre Güte vielleicht erfahren, wie spät es ist?«

      »Ich sollte denken, es wäre die höchste Zeit,« antwortete es mit verstellter Stimme aus dem umfangreicheren der beiden Pelze.

      »Gut, Herr Graf, dann begleiten Sie mich; dies ist nicht der Ort, an welchem man ohne Scheu Geheimnisse verhandeln dürfte, und außerdem ist es auf offener Straße zu kalt für die gnädige Frau Schwester des Herrn Grafen,« entgegnete Merle mit entschiedenem Wesen.

      »Wenn wir aber nicht geneigt wären, Sie weiter zu begleiten?« fragte der Graf leise. »Wir kennen Sie nicht, und dann versprachen Sie auch, uns Ihr Geheimniß in gedrängter Kürze anzuvertrauen. Uebrigens haben wir Ihrer seltsamen Aufforderung weniger, weil wir Wichtiges von Ihnen zu vernehmen erwarteten, Folge geleistet, als aus - nun, nennen wir es: Lust an Abenteuern.«

      »Sie erwarten also, nichts Wichtiges von mir zu hören, hm, dann haben Sie auch wohl kein Geld mitgebracht?« fragte der Gauner höhnisch zurück.

      »Immerhin genug, um den Spaß, den Sie sich mit uns erlaubten, mehr als zu theuer bezahlen zu können,« erwiderte der Graf ungeduldig; »doch sagen Sie schnell, was Sie wollen, oder Sie veranlassen uns, Sie als einen Betrüger zu betrachten und unserer Wege zu gehen.«

      Bei dem Worte ›Betrüger‹ stieß die in Männertracht gehüllte Gräfin Clotilde ihren Bruder leise an. Listiger, als der Graf, hielt sie dessen Auftreten für wenig geeignet, den Gauner zum Sprechen zu bringen.

      »Wenn Sie Ihrer Wege gehen wollen, so mögen Sie es immerhin thun,« versetzte Merle ruhig, indem er selbst sich zum Gehen anschickte; »vielleicht habe ich mich auch geirrt, und das in meiner Tasche befindliche Blatt aus dem Kirchenbuche, welches eine gewisse ...«

      »Schweigen Sie, oder sprechen Sie wenigstens nicht so laut, daß die Vorübergehenden es verstehen,« fiel ihm die Gräfin jetzt in's Wort, und zugleich trat sie an seine Seite, welchem Beispiele ihr vor Schreck fast erstarrter Bruder augenblicklich folgte.

      »Erklären Sie, was Sie wollen,« fuhr sie mit bebender Stimme fort, denn indem sie ihre Fassung zurückgewann, bedachte sie, daß sie sich durch die unvorsichtige Aeußerung noch mehr in die Gewalt eines ihr völlig Unbekannten gegeben habe; »ja, sprechen Sie offen, was meinen Sie mit dem Kirchenbuche, und wie kommen Sie, dazu, uns mit einem solchen in Verbindung zu bringen?«

      »Nicht hier, Frau Gräfin,« versetzte Merle mit widerwärtiger Vertraulichkeit; »daß meine Nachrichten nicht ganz ohne Wichtigkeit sind, werden Sie zur Zeit ebenso gut begriffen haben, wie ich. Ich muß daher fest darauf bestehen, daß Sie mich begleiten; bedenken Sie, wenn wir hier in unserer Verhandlung gestört oder gar belauscht würden, welche unangenehmen Folgen das für uns haben könnte.«

      »Wohin wollen Sie uns führen?« fragte der Graf jetzt wieder, nachdem er seiner Bestürzung Herr geworden war.

      »An einen sichern Ort, meine Herrschaften, an einen Ort, wo kein menschliches Ohr uns hört und Ihnen so wenig wie mir Gefahr droht. Wir wandeln nämlich auf gefährlichem Boden, und wer von uns die am meisten bedrohte Partei ist, werden Sie selbst am besten ermessen.«

      Es erfolgte jetzt eine kurze, im Flüstertone geführte Berathung zwischen den beiden Geschwistern, bei welcher die Gräfin augenscheinlich die entscheidende Stimme führte, denn sie trat zuerst neben Merle hin, ihn auffordernd, voranzuschreiten.

      »Es ist nicht unmöglich, daß Ihre Mittheilungen, wenn auch nicht für uns, doch für andere, uns bekannte Personen Werth haben,« sagte sie mit kalter Ruhe, hinter welcher nur eine eiserne Willenskraft wohnen konnte; »wir wollen daher um das Blatt förmlich handeln - vorausgesetzt, Sie haben dasselbe nicht gefälscht - und sind Ihre Forderungen nicht zu unverschämt, sollen sie Ihnen bewilligt werden.«

      Der Gauner antwortete durch ein unterdrücktes, vertrauliches Lachen, zog seinen Rock fester um sich und schlug dann denselben Weg ein, den er gekommen war.

      »Sie müssen einem armen Teufel schon gestatten, daß er wie Ihresgleichen in einer Reihe mit Ihnen geht,« sagte er nach einer Weile, als er bemerkte, daß der Graf sich etwas entfernt von ihm hielt; »nicht als ob mir viel um die Ehre zu thun wäre, mit hochgeborenen Herrschaften beinahe Arm in Arm zu gehen, denn in diesem Augenblicke sind wir doch so ziemlich gleich; nein, gewiß nicht; aber es ist rathsamer, die uns etwa begegnenden Wächter halten