»Hänschen – wie kommst du denn hierher?«
Dem Obersekundaner war die Sache, so lieb er sein kleines Schwesterchen auch sonst hatte, äußerst peinlich. Er schielte errötend zu seinen grinsenden Kameraden hin und sagte möglichst militärisch: »Vom Pfadfinderbund zum Dienst befohlen!« Dann machte er mit seiner Bank, daß er fortkam. Nesthäkchen aber war selig über die unvermutete Begegnung.
Margot, als Erste der Klasse, war das Ehrenamt zugefallen, den großen Globus, der nicht viel kleiner war als sie selbst, in Sicherheit zu bringen. Annemarie half ihr getreulich dabei, indem sie neben ihr her trabte und alle paar Sekunden die Hände nach dem glatten runden Ding ausstreckte, um es der Freundin, falls sie ermüdete, abzunehmen. Die aber war äußerst ehrgeizig. Trotzdem ihr die Arme allmählich erlahmten, mochte sie sich nicht schwach zeigen.
»Laß doch«, sagte sie ein wenig gereizt, als Annemarie zum so und sovielten Male wieder ihre Hilfe anbot und machte eine ungeduldige Bewegung. Dabei entglitt die glatte, tückische Weltkugel den müden Mädchenarmen – bumderattada – lag der Globus auf den Steintreppen mit einem tüchtigen Loch.
Margot fing erschreckt an zu weinen, und auch Annemarie machte ein entsetztes Gesicht. Polen war auf der Weltkugel zertrümmert, und Rußland zeigte eine gehörige Beule.
»Du bist schuld, Annemarie – du ganz allein, warum wolltest du auch immer mit anfassen, dann natürlich muß es einem ja aus der Hand rutschen – ach, was wird Fräulein Konrad sagen!« rief Margot unter heißen Tränen.
Annemarie stand starr. Bei ihrer Wahrheitsliebe schmerzte sie die ungerechte Beschuldigung der Freundin aufs tiefste.
»Ich hab' ja noch gar nicht angefaßt – ich hab's doch gut gemeint! Aber wenn du so bist, bin ich mit dir schuß auf ewig und gehe von jetzt an immer mit Marianne Davis«, rief Doktors Nesthäkchen kirschrot im Gesicht vor Ärger und fing ebenfalls an zu weinen.
Um die beiden kleinen Streithammel bildete sich sofort ein Auflauf von Neugierigen.
»Na, was gibt's denn hier?« Professor Herwig, einer der ältesten Lehrer des Lyzeums, lugte über seine Brillengläser hinweg auf die beiden sich gegenüberstehenden heulenden Kinder.
»Der Globus ist heruntergefallen – Polen hat ein Loch bekommen und Rußland eine Beule«, schluchzte Annemarie, denn Margot war so schmerzerfüllt, daß sie keine Auskunft geben konnte.
»Das ist ja eine nette Geschichte!« Der alte Herr Professor griff nach der zertrümmerten Weltkugel. »Na, trocknet nur eure Tränen«, wandte er sich dann lächelnd an die weinenden Kinder. »Die Welt geht jetzt durch den Krieg ja auch in Stücke, was ist diese Weltkugel hier denn besser! Wollen es als eine gute Vorbedeutung für unsere Ostheere ansehen, daß Polen von ihnen erobert wird und Rußland seine Beule wegkriegt – hahaha«, jetzt lachte er dröhnend. Einige Lehrer und Lehrerinnen, die sich inzwischen dazu gefunden, stimmten ein.
Den beiden kleinen Freundinnen aber war noch gar nicht zum Lachen zumute. Unter Tränen griff Doktors Nesthäkchen, da Margot tatenlos ihre in Trümmer gegangene Weltkugel beweinte, nach derselben und transportierte sie weiter. Freundin Margot, das Taschentuch vor den Augen, hinterher.
»Ei, Kinder, was ist denn das hier für ein Leichenbegängnis?« Fräulein Hering hielt die zwei Trauernden an.
Auch sie erfuhr von dem Unglück.
»Wem ist denn das passiert, dir, Annemarie?«
Doktors Nesthäkchen senkte den Blondkopf und gab keine Antwort. Nein, es verpetzte Margot, die einstige beste Freundin nicht! Lieber litt es selbst die Strafe.
Der bisher gesenkte braune Kopf aber hob sich nach heftigem Seelenkampf plötzlich in die Höhe. »Ich habe den Globus hingeworfen«, sagte Margot leise.
»Ich bin aber schuld daran gewesen«, fiel Annemarie lebhaft ein, sie wollte an Edelmut nicht hinter Margot zurückstehen.
»Das ist hübsch von euch, Kinder, daß die eine nichts auf die andere kommen läßt – das ist die wahre Freundschaft!« Freundlich schritt Fräulein Hering weiter, ohne über ihre Ungeschicklichkeit zu schelten.
Die zwei wurden noch röter als rot. Unsicher sahen sie sich an, sie schämten sich des Lobes, das sie doch eigentlich ganz und gar nicht verdient hatten.
War es nun Annemarie oder war es Margot, welche den ersten Schritt zur Versöhnung tat? Das wußten sie nachher alle beide nicht mehr. Aber ihre Hände hielten sich plötzlich wieder gefaßt, und über dem zertrümmerten Polen gaben sich die zwei, die für »ewig schuß« sein wollten, den Versöhnungskuß. Die Rüge von Fräulein Konrad, die in Anbetracht der sich drängenden Arbeit sehr mild ausfiel, trugen sie dann getreulich gemeinsam.
Das wäre ja auch schrecklich gewesen, wenn ein so schönes Werk, wie ihre eifrige Hilfsbereitschaft für die Verwundeten, die beiden Freundinnen entzweit hätte!
4. Kapitel. Für unsere Vaterlandsverteidiger.
»Viele Hände machen der Arbeit bald ein Ende«, auch in dem Mädchenlyzeum bewahrheitete sich dieses Sprichwort. Schon nach knapp drei Tagen war die Hauptarbeit getan, Aula und Turnhalle vollgestopft mit allem, was sich sonst auf sämtliche Schulräume verteilt hatte. Eine mächtige Küche wurde angebaut, Badeeinrichtungen geschaffen und fünfhundert Betten aufgestellt.
Die Werktätigkeit der Schülerinnen aber begann jetzt erst eigentlich. Jede erhielt einen gedruckten Aufruf:
»An die Schülerinnen des Schubertschen Mädchenlyzeums zu Berlin.
In diesen schweren Tagen soll auch euch Gelegenheit gegeben werden, euch zum Wohle des Vaterlandes zu betätigen.
Das Lehrerkollegium hat beschlossen, zwei Hilfsabteilungen im Dienste des Roten Kreuzes zu gründen:
1. Eine Strick- und Nähabteilung (Vorsitzende Fräulein Hering). In dieser sollen wollene Strümpfe, Handschuhe, Bettwäsche usw. für unsere Truppen angefertigt werden. Die Arbeiten werden unter Leitung der Lehrerinnen eingerichtet, und dann so weit als möglich zu Hause vollendet. Zur Unterweisung stellt Herr Direktor Schubert vorläufig seine Dienstwohnung zur Verfügung.
Versammlung der hierzu bereiten Schülerinnen Montag, den 10. August, nachmittags 4 Uhr, auf dem Schulhofe.
2. Eine Verpflegungsabteilung wird eingerichtet. (Vorsitzende Fräulein Neubert.)
Durchziehenden Truppen sollen Erfrischungen gereicht werden.
Diese vaterländische Betätigung im Dienste des Roten Kreuzes erfordert viel Geld. Es ergeht daher an alle Schülerinnen der Aufruf. Geldbeiträge zu spenden, dieselben durch ihre Vertrauensschülerinnen zu sammeln und an den Direktor abzuliefern.
Opfert dem Vaterlande!«
Doktors Nesthäkchen erhielt von Margot diesen Aufruf zugesandt, trotzdem es selbst eine der von der Klasse erwählten Vertrauensschülerinnen, die für die Versendung der Zettel Sorge zu tragen hatten, war. Aber sie war doch nicht schlechter als die andern – wenn die ihren Aufruf mit der Post bekamen, wollte Annemarie ihn auch so haben. Darum sandten die törichten kleinen Mädel sich gegenseitig ihre Zettel zu.
In tiefem Nachdenken saß Annemarie vor dem ihren, trotzdem der Inhalt ihr bereits genügend bekannt war. Es war wirklich eine schwierige Überlegung. Sollte sie sich zur Handarbeits- oder zur Verpflegungsabteilung melden? Oder am Ende zu allen beiden?
Für Handarbeiten hatte der Wildfang eigentlich herzlich wenig übrig. Nesthäkchen quälte sich immer noch mit ihrem ersten Pulswärmer zu Hause herum. »Verpflegung«, das klang doch viel schöner. Dabei dachte man gleich an leckere Schinken und lange Würste – und am Ende durfte sie selbst am Bahnhof Butterbrote und Kaffee an die durchkommenden Truppen verteilen wie Bruder Hans. Klaus, mit dem sie die Sache besprach, riet ihr, aus seinem ewig hungrigen Gymnasiastenmagen heraus, zur Verpflegungsstation. Aber der wußte doch nicht, wie gern sie Fräulein Hering hatte, welche