»Ei, Annemiechen, da muß ich wohl auch etwas stiften«, das gute Fräulein holte aus ihrem Koffer sogleich mehrere Pakete Strickwolle, die sie der beglückten Annemarie für ihre Sammlung überreichte.
»Danke – danke tausendmal, mein geliebtes, goldenes Fräulein. Nun habe ich bloß noch eine einzige Bitte, aber die kann ich nur ins Ohr sagen.«
»Was mag denn das bloß sein?«
»Ich möchte so schrecklich gern wie früher ›du‹ zu Ihnen sagen, Fräulein«, flüsterte Nesthäkchen.
»Aber das ist doch ganz selbstverständlich, Annemie«, lachte Fräulein. Sie hatte es noch gar nicht gemerkt, daß die Kleine eine direkte Anrede bisher vermieden hatte.
Nun erst war Annemaries Freude über Fräuleins Rückkunft ohne jede Einschränkung, denn es hatte ihr doch viel Kopfzerbrechen gemacht, ob Fräulein das vertrauliche Du von früher auch nicht übelnehmen würde. Jetzt würde ihr des Abends auch nicht mehr nach Mutti so bange sein, da Fräulein bei ihr im Zimmer schlief.
Eigentlich waren alle im Hause recht froh über Fräuleins Wiederkehr. Großmama fühlte ein Teil der schweren Verantwortung für die Kinder schwinden, und Hanne dachte: »Wenn die Russen doch nach Berlin kommen sollten, ist wenigstens ein handfestes Frauenzimmer mehr im Hause zur Verteidigung.«
Auch Hans sah in ihr die Erfüllung aller seiner Wünsche, wie abgerissene Knöpfe und geplatzte Nähte, mit denen er Großmama nicht immer kommen mochte. Nur Klaus und Puck blickten trübe in die Zukunft. Beide waren während der Kriegswochen ihre eigenen Wege gegangen. Die von Puck führten zu sämtlichen Sofas der Wohnung, auf denen er es sich in Abwesenheit der Besitzer bequem gemacht hatte. Großmama konnte nicht immer hinterher und ihn herunterjagen. Aber Fräulein würde ihn sicherlich auf den Trab bringen. Ähnliches dachte auch Klaus, der sich nur zu gern auf der Straße herumgetrieben hatte. Alle beide sahen in Fräuleins Erscheinen das Ende ihrer goldenen Freiheit.
5. Kapitel. Nesthäkchen straft Japan.
Fräuleins erste Tätigkeit im Hause von Doktor Brauns bestand in dem Nähen von Fahnen. Da wurde eine riesige schwarzweiß-rote Familienflagge verfertigt; außerdem bat aber noch jedes der Kinder um eine eigene Fahne. Hans bemalte die seine mit dem preußischen Adler. Klaus ließ sie sich in den österreichischen Farben schwarz-gelb herstellen, um sie gleich von der Straße aus herauszuerkennen.
Es war aber auch nötig, daß so viele Fahnen fabriziert wurden, denn Sieg über Sieg brachten die herrlichen Augusttage des eisernen Jahres 1914. Ganz Berlin war ein wehendes, wallendes Fahnenmeer. Bei Longwy, Namur und Maubeuge bekamen Belgier, Franzosen und Engländer die deutschen Fäuste zu spüren. Deutsche Unterseeboote wagten sich tollkühn bis an die Ostküste Englands.
Wie stolz war Doktors Nesthäkchen, als es den großen Brüdern erzählen konnte, daß es von Wittdün aus schon mal ein Unterseeboot gesehen habe. Wie horchten die Jungen auf, als Annemarie ihnen die schmale, schwarze Eisenzigarre mit dem kleinen Auslugturm, Periskop genannt, beschrieb, die plötzlich von den Meeresfluten verschlungen zu sein scheint und nun unsichtbar viele Stunden unter Wasser fahren kann.
Aber als Klaus eines Tages ein Extrablatt mit heimbrachte, »Heldentaten der Königin Luise«, da kannte Annemaries Begeisterung keine Grenzen. Ihr Schiff, auf dem sie die Fahrt von Hamburg nach der Insel Amrum gemacht, hatte sich so heldenhaft ausgezeichnet! Gewiß war ihr Freund, der Matrose Willem, der ihr damals das ganze Schiff gezeigt hatte, einer der tapfersten dabei gewesen. Die Ohrenklappen, die Annemarie gerade fertig hatte, bestimmte sie zum Dank für ihn. Zwar hatten sie eine unleugbare Ähnlichkeit mit zwei grauen Mäusen, da Annemarie die Wolle etwas zu fest zusammengezogen hatte, aber der Matrose würde sich doch sicher darüber freuen.
Auch Pfeifentabak kaufte sie von ihrem Taschengeld. Großmama fügte ein Paar Strümpfe und eine Flasche Kognak hinzu, die Brüder Schokolade und Fräulein einen Kopfschützer. Auch Hanne mußte sich auf Nesthäkchens unaufhörliches Betteln von einer niedlichen Rügenwalder Wurst trennen. Das wurde ein feines Paket, und der Brief, den Annemarie dazu schrieb, hätte dem tapferen Matrosen Willem große Freude gemacht, wenn – er ihn überhaupt bekommen hätte. Aber leider erreichten ihn weder Annemaries graue Ohrenmäuse noch sonst etwas von dem schönen Paket. Denn der Matrose Willem schlief bereits auf tiefem Meeresgrunde den ewigen Schlaf.
Während Doktors Nesthäkchen noch ihre Fahne mit einem großen Schild »Königin Luise« vom Balkon wehen ließ, während es auch das Blumenbrett im Kinderzimmer mit lauter kleinen, lustigen Papierfähnchen der »Königin Luise« zu Ehren schmückte, war der neue, prachtvolle Dampfer bei einem weiteren kühnen Vorstoß torpediert worden und ebenso heldenhaft wie er gekämpft mit seiner ganzen Besatzung untergegangen.
Heiße Tränen weinte Annemarie, als sie das Schicksal der »Königin Luise« und ihres Freundes erfuhr. Der Krieg, der ihr bisher eigentlich immer noch mit all seiner Begeisterung, seinen Fahnen und Siegesfeiern als etwas sehr Lustiges erschienen war, zeigte Doktors Nesthäkchen zum erstenmal sein ernstes Angesicht.
Wie mochte es nur in Wittdün, das mitten im Meere lag, ausschauen? Ob all ihre guten Freunde dort geblieben waren? Von Helgoland, dem Bollwerk gegen Englands Seemacht, schössen jetzt sicherlich die Kanonen, von denen ihre Mutti auf der Hinreise erzählt hatte.
Das zurückkommende Paket bekam nun der Schuldiener Piefke, der bei Mülhausen kämpfte, mit einem neuen Brief. Diesmal erreichte es den Empfänger. Annemarie erhielt als Dank die erste Feldpostkarte.
Auch Japan war zu Deutschlands Feinden übergegangen. Nesthäkchen beschloß, diese Treulosigkeit zu rächen.
In ihrem Hause wohnte oben in einer Pension ein Herr, den die Kinder stets den »Japaner« nannten, trotzdem er Siamese war. Annemarie hatte von jeher ungeheures Interesse für sein fremdländisches Aussehen gehabt. Und da auch dem Herrn der reizende kleine Blondkopf, der ihn auf der Treppe so neugierig anstarrte, gefiel, hatte sich ein freundschaftliches Verhält zwischen den beiden herausgebildet. Es bestand von Annemarie aus in einem tiefen Knicks, und von seiten des schlitzäugigen Herrn in fremdländischen Briefmarken für die Brüder und in manchem Täfelchen Schokolade für das Süßschnäbelchen selber.
Jetzt aber, nachdem die Japaner sich so »gemein« gegen Deutschland benommen hatten, war Doktors Nesthäkchen fest entschlossen, den »Japaner« überhaupt nicht mehr zu grüßen.
Gleich am nächsten Tage, als sie aus der Strickstunde kam, wollte es der Zufall, daß sie ihrem »Japaner« wieder auf der Treppe begegnete. Er ahnte nichts von Annemaries feindseligen Gefühlen, er sah nicht, daß sie den Blondkopf fast bis zur Erde senkte, um nur nicht grüßen zu müssen. Nicht einmal der fehlende Knicks, dessen Umgehung Annemarie als höfliches kleines Mädchen schwer genug wurde, schien ihm aufzufallen. Mit einem freundlichen »Na, fleißig gewesen?« war er an ihr vorüber.
Nesthäkchen triumphierte. »Ich habe es dem Japaner ordentlich gezeigt, wie ich ihn verachte, für mich ist er jetzt Luft«, teilte sie ihrer Freundin Margot stolz mit.
»Meine Mama hat gesagt, wir Kinder müssen jeden im Hause freundlich grüßen, sonst ist man unhöflich«, meinte die brave Margot.
»Ist mir ganz wurscht, gegen unsere Feinde unhöflich sein, das ist patriotisch«, brüstete sich Annemarie.
Zwar meinte Fräulein, der Annemarie die Begebenheit beim Schlafengehen erzählte, daß Unhöflichkeit nie etwas Patriotisches wäre, sondern daß die Ungezogenheit bestehen bliebe, ob sie nun gegen Freund oder Feind gerichtet sei.
Auch die Brüder waren nicht mit Annemaries