Frau Buligin hatte mir jedoch sofort zugeflüstert, ich solle unbedingt darauf bestehen, dass wir russisch sprechen dürfen, da sie mit mir über wichtige Dinge zu reden habe. Ich drang also in Herrn v. Berg, er möchte gestatten, uns des Russischen zu bedienen.
„Das darf ich nicht“, versetzte er kurz. „Sie sprechen beide genügend deutsch, um sich zu verständigen.
„Sie werden zugeben“, erwiderte ich, „dass wenn man noch so gut eine fremde Sprache beherrscht, man doch das Bedürfnis hat, mit seiner Gattin, die man wochenlang nicht gesehen, und die man unter solchen Umständen, wie im Kerker, wiedersieht, in der Muttersprache verkehren möchte. Von unseren Familienverhältnissen, von unserem Kinde in einer fremden Sprache zu erzählen, wird meiner Frau unmöglich sein. Ich begreife auch nicht“, fuhr ich fort, „wie die Gesetzlichkeit, deren Vertreter Sie sind, Schaden nehmen sollte, warum sie ein Hindernis sein soll, uns diese Freude zu gewähren. Wenn Sie Zweifel in dieser Beziehung haben, können Sie ja den Übersetzer, Herrn Professor Thun kommen lassen, damit er unserem Gespräch beiwohnt.“
„Ich bin gesetzlich nicht dazu verpflichtet, wenn Sie beide der deutschen Sprache hinlänglich mächtig erscheinen“, meinte der steife Greis.
„Nach dem Gesetze sind Sie freilich im Rechte, aber es gibt auch eine Pflicht der Humanität, die alle gebildeten Menschen trifft, und diese sollte Sie bewegen, uns den Gebrauch der Muttersprache nicht zu verweigern.“
Ich hatte das Wort „Humanität“ scharf betont, und es schien Eindruck gemacht zu haben – der Staatsanwalt kapitulierte. Er willigte ein, dass wir russisch sprechen, wenn Professor Thun sich bereit zeigt, zugegen zu sein. Aber er wollte ihn nicht holen lassen: wieder war er „gesetzlich dazu nicht verpflichtet“! Natürlich durfte ich meine Beziehung zu Professor Thun nicht verraten und fragte geflissentlich nach der Adresse, obwohl ich sie genau von dem Professor selbst erfahren hatte.
„Man wird es Ihrer Gemahlin in meiner Kanzlei sagen.“
Damit verließ er mit Frau Buligin das Zimmer, und ich wurde in meine Zelle zurückgeführt.
Nach einiger Zeit wurde ich abermals in das Besuchszimmer geführt und fand dort außer Frau Buligin und dem Staatsanwalt auch Professor Thun. Diesen hatte ich in der letzten Zeit lange nicht gesehen, da er zu den Osterferien verreist war. Auch war seine Aufgabe als Übersetzer beendet, und seit die Akten an den Staatsanwalt gegangen waren, konnte er nicht mehr so ungeniert mit mir verkehren.
Frau Buligin erklärte mir, sie sei herbeigeeilt, weil meine Freunde in großer Sorge um mich seien. In Genf drängen sich russische Spione um meine nächsten Bekannten und Freunde, zeigen meine Photographie vor, die genau der aus Freiburg geschickten gleicht, und forschen, wo ich sei. Daraus schließen meine Freunde, dass die russische Regierung bereits auf der Fährte sei, wer sich unter dem Namen Buligin verbirgt, und wenn meine Haft noch länger dauern sollte, so sei mit Sicherheit zu erwarten, dass mein wirklicher Name in Erfahrung gebracht werde.
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Fluchtpläne und Vorbereitungen
Fluchtpläne und Vorbereitungen
Es sei daher unerlässlich, für alle Fälle einen Fluchtplan auszuarbeiten. Wir erörterten daher alle in Betracht kommenden Chancen und suchten einen Plan festzustellen. Professor Thun nahm den lebhaftesten Anteil an unserem Gespräch und machte selbst Vorschläge. Aber, wie gesagt, keiner dieser Pläne war wirklich durchführbar. Sie hier darzustellen, hätte keinen Zweck, doch möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass in allen Kombinationen Professor Thun eine sehr gewichtige aktive Rolle zufallen sollte.
Wenn ich heute, nach neunzehn Jahren, alle jene Vorgänge überlege, dann bin ich oft versucht, selbst an dem zu zweifeln, was ich in Wirklichkeit erlebt, dass nämlich ein deutscher Professor, ein Mann, der seinen Anschauungen nach zu den sehr gemäßigten Kathedersozialisten gehörte, sich erbot, einem russischen Sozialisten zur Flucht zu verhelfen, mit ihm Pläne schmiedete und dabei sich persönlich der größten Gefahr aussetzte. Und dabei hatte doch dieser Mann, ehe er mich persönlich kennen lernte, den Wunsch geäußert, dass ich der russischen Regierung ausgeliefert werden sollte!
Der Herr Staatsanwalt v. Berg, der während des ganzen Gesprächs im Zimmer blieb, spielte dabei eine furchtbar komische Rolle. Er verstand natürlich nicht ein Wort, weil wir ja russisch sprachen; da er uns aber lachen sah, lächelte er auch und tat, als wenn er seine Freude an uns habe. Dass wir uns über ihn lustig machten und unser Lachen ihm galt, ahnte er freilich nicht. Wir berieten zum Beispiel mit Professor Thun, was dieser über unser Gespräch berichten sollte, und konnten nicht umhin, uns auszumalen, welche Wut wohl diesen streng gemessenen, korrekten und formalistischen alten Herrn erfassen würde, wenn er erfahren könnte, was wir in Gegenwart seiner würdevollen Person ausheckten.
Als wir unsere Beratungen, die ziemlich lange dauerten, beendet hatten, nahm Frau Buligin ebenso zärtlich Abschied von mir, wie sie mich begrüßt hatte. Sie bedankte sich bei Herrn v. Berg, dass er uns gestattet hatte, russisch zu sprechen, und fragte ihn, wann er mich freizugeben gedenke. Wie ich mich erinnere, meinte er, dass an einem der nächsten Tage, dessen Datum er bezeichnete, das Gericht Beschluss fassen würde; allerdings fügte er hinzu, dass wenn ich freigesprochen werden würde, man mich der Polizei übergeben werde, die mich als Ausländer nach einer beliebigen deutschen Grenze schaffen könne, doch sei anzunehmen, dass man die Schweizer Grenze, als die nächstliegende, wählen würde.
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Hoffnungen
Hoffnungen
Ich klammerte mich immer mehr an der Hoffnung fest, dass dem wirklich so sein werde, und wies alle Zweifel, die sich hartnäckig wieder und wieder einstellten, zurück. Freilich war es angenehmer, von der bevorstehenden Befreiung zu träumen, als sich die Konsequenzen einer Auslieferung nach Russland oder auch nur einer Abschiebung an die russische Grenze auszumalen. – Seit dem Besuch von Frau Buligin steigerte sich meine Sehnsucht nach Freiheit noch mehr. Die Phantasie gaukelte mir frohe Bilder vor; meine Gedanken weilten beständig bei meinen Freunden und meiner Arbeit. Ich durchlebte im Geiste fröhliche Begrüßungsszenen und sah dann unseren Kreis mit doppelter Energie sich an die Arbeit stürzen, zum Gedeihen des „Bundes für Befreiung der Arbeit“. Ich überlegte beinahe Schritt für Schritt, was ich alles tun werde, um die erzwungene Untätigkeit wettzumachen. Ich lebte nur noch in der Zukunft, die traurige Gegenwart erschien als längst überstandene Vergangenheit, als ein dumpfer Traum, als ein Geschehnis, das schon oft im Kreise der Meinigen erzählt und besprochen war, als etwas, was weit, weit hinter mir lag ... Ähnlich muss ein Krieger fühlen, der nach überstandenen Kriegsgefahren und harten Entbehrungen im Kampfe heil und ganz der Heimat zustrebt.
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Der Staatsanwalt deckt die Karten auf
Der Staatsanwalt deckt die Karten auf
„Heute also erfolgt der Beschluss über meine Befreiung.“ Mit diesem Gedanken erwachte ich an einem Maitage, wie ich mich dessen noch heute genau erinnere. Ich begann mir vorzustellen, auf welche Weise man mir den Beschluss kundtun würde.
„Sie sollen zum Staatsanwalt“, unterbrach der Schließer meine Phantasien.
„Das ist der Freispruch“, war mein erster Gedanke, „der Mann hält Wort; sonderbar, dass das Gericht schon fertig ist mit seiner Beratung; es ist noch so früh am Tage“, überlegte ich auf dem Wege durch die Gefängniskorridore.
In der Kanzlei saß Herr v. Berg am Tische und neben ihm ein junger Schreiber; der Tisch war mit Aktenfaszikeln bedeckt.
„Heute hat, wie Ihnen bekannt“, wandte sich der Staatsanwalt an mich, „der