Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo Deutsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leo Deutsch
Издательство: Bookwire
Серия: gelbe Buchreihe
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783754172889
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sich also meine Empfindungen aus.

      „Woher wissen Sie meinen Namen?“ fragte ich, vor Erregung bebend.

      „Ihr Freund Karl Moor hat ihn mir mitgeteilt, als Sie Basel verlassen hatten.“

      „Und obwohl Sie wissen, wer ich bin, bieten Sie mir Ihre Hilfe an?“ fragte ich erstaunt.

      „Ja; sagen Sie, womit Ihnen gedient ist, und ich will tun, was ich kann.“

       Ich konnte es kaum fassen, aber ein Blick in seine Augen sagte mir, dass ich ihm vertrauen dürfe. Es war jenes intuitive Vertrauen, das man zu einem Menschen fasst und das dann auch grenzenlos ist.

      „Ich danke Ihnen“, sagte ich. „Also, wenn es mir nicht gelingt, auf legalem Wege aus diesem Gefängnis zu kommen, werde ich versuchen zu fliehen. Würden Sie mir beistehen?“

      „Einverstanden“, sagte er einfach und ernst.

      Ich konnte es noch immer nicht fassen; derselbe deutsche Professor, der in meiner Gegenwart öffentlich sein Bedauern darüber geäußert hatte, dass die Schergen des Zarismus meiner noch nicht „habhaft“ geworden sind, mit anderen Worten, dass ich noch nicht am Galgen hing, derselbe Mann bietet mir seine Hilfe, um aus einem deutschen Kerker zu fliehen!

      Er lieferte mir jedoch unverzüglich den Beweis, wie ernst es ihm war.

      Als Übersetzer war er im Besitz aller Bücher, Briefe usw., die man mir abgenommen hatte. Er nahm mein Notizbuch, das man ihm ebenfalls eingehändigt hatte, bot es mir an und gab mir den Rat, einige Seiten, auf denen, wie er bemerkt hatte, Adressen eingetragen waren, welche mir schaden konnten, zu vernichten. Ich machte natürlich sofort Gebrauch davon.

      * * *

      Fluchtpläne

       Fluchtpläne

      Dann schlug ich ihm vor, er möchte unverzüglich nach Zürich reisen, dort meinem Freunde Axelrod mitteilen, was vorgefallen, ihn instruieren, wie er bei meiner Befreiung auf legaler Weise mitwirken könne, schließlich mit ihm die Mittel zur Bewerkstelligung meiner eventuellen Flucht zu erwägen, im Falle die Gefahr entsteht, dass die deutsche Regierung mich an Russland ausliefere.

       Diesen Auftrag erfüllte Professor Thun aufs Genaueste, und während meiner Haft in Freiburg erwies er mir unendlich viele Liebesdienste, wobei er ernstlich Gefahr lief, seine Stellung zu kompromittieren. So veranstaltete er geheime Zusammenkünfte in der Freiburger Kathedrale mit meinen Freunden, die herbeigeeilt waren, um im Notfalle mir behilflich zu sein; er vermittelte den brieflichen und mündlichen Verkehr zwischen mir und meinen Genossen usw. Da er beständig zu mir Zutritt hatte, infolge des Vertrauens, das ihm die Gerichtsbehörde als einem angesehenen Professor entgegenbrachte, ließ er mich öfters in das Übersetzerbüro rufen, wo wir ungestört verhandelten oder auch plauderten. Bei diesen Besuchen sah ich, wie er von ganzem Herzen bestrebt war, mir zu helfen. Das ging so weit, dass er mir seine Wohnung als Zufluchtsort anbot, wenn ich gezwungen wäre zu fliehen. Zuweilen machte er sich dabei über seine eigene Rolle lustig.

      „Nun schau einer an“, sagte er lachend, „ich, ein deutscher Professor in Amt und Würden, bin zu einem russischen Verschwörer geworden, und die friedliche badische Stadt ist der Schauplatz einer Verschwörung.“

      Aus dem Verkehr mit dem Untersuchungsrichter wusste er genau, wie meine Sache stand, und hielt mich natürlich darüber auf dem Laufenden.

      * * *

      Bei dem ersten Verhör gab ich dem Untersuchungsrichter folgende Darstellung der Sachlage:

       Ich bin als russischer Student studienhalber ins Ausland gegangen. Hier habe ich geheiratet und habe ein Kind. Bisher hielt ich mich in der Schweiz auf, jetzt wollte ich in Freiburg bleiben, wohin meine Frau, die in Zürich weilt, mir folgen sollte. Meinen Unterhalt erwarb ich zum Teil durch literarische Arbeiten, zum Teil bestritt ich ihn aus eigenen Mitteln. In der Schweiz besuchte ich die Universität als Hospitant. [Diese Angaben waren insofern notwendig, als Buligin, auf dessen Pass ich reiste, verheiratet war, mit Frau und Kind in Zürich weilte und dort die Universität besuchte.] Was meine politischen Anschauungen anbetrifft, so war ich in dieser Beziehung bisher nicht zur vollen Klarheit gelangt; während meines Aufenthalts in der Schweiz jedoch wurde ich unter dem Einfluss der deutschen Literatur Anhänger der Sozialdemokratie und beschloss, soweit meine Kräfte reichen zur Verbreitung dieser Anschauungen in meinem Vaterlande zu wirken. [Das entsprach so ziemlich der Wirklichkeit. Etwa ein Jahr vor den hier geschilderten Vorgängen, im Sommer 1883, hatten Plechanow, Wera Sassulitsch, Axelrod und ich die sozialdemokratische Organisation „Zur Befreiung der Arbeit“ begründet; Zweck dieser Organisation war die Verbreitung der Marxschen Lehre in Russland durch Übersetzungen und Originalabhandlungen. Die Schriften, die ich in meinem Koffer führte, waren eben dieser Art, die Erstlinge unserer schriftstellerischen Tätigkeit, die vor kurzem die Druckerpresse in der eigens hierfür errichteten Druckerei verlassen hatten.] Als ich aus verschiedenen Gründen beschloss, nach Deutschland zu übersiedeln, nahm ich die bei mir vorgefundenen sozialdemokratischen Schriften mit, um sie hier eventuell an Landsleute zu verkaufen. Diese Schriften sind in Deutschland nicht verboten, ihr Besitz involviert daher nicht im Entferntesten ein Vergehen, geschweige denn ein Verbrechen gegen deutsche Reichsgesetze.

      „Und nun“, schloss ich, „werde ich in der freien deutschen Stadt, in Freiburg, ohne jede gesetzliche Grundlage verhaftet! Verhaftet ohne Einhaltung irgendwelcher gesetzlicher Formalitäten, allen möglichen Erniedrigungen unterworfen, in den Kerker gesperrt wie ein gemeiner Verbrecher. Dessen nicht genug: in meiner Gegenwart erdreistet sich die Polizei, eine freie Bürgerin des deutschen Staates ohne jeden Anlass wie eine Dirne, wie eine Verbrecherin anzugreifen und zu verhaften. Da möchte ich doch wirklich fragen: Welcher Unterschied besteht zwischen dem konstitutionellen Rechtsstaate Deutschland und dem absolutistisch-despotischen Russland? Schlimmer kann schließlich auch niemand in Russland behandelt werden!“

      Diese Worte schienen einigen Eindruck auf den Richter gemacht zu haben. Er schritt aufgeregt auf und ab, indem er dem Schreiber meine Aussagen diktierte, gab mir wiederholt sein Mitgefühl kund und äußerte sein scharfes Missfallen über das Verhalten der Polizei bei meiner und der jungen Dame Verhaftungen. An einer Stelle meinte er: „Ganz wie bei Shakespeare: ‚Aber das Tuch, das Tuch!’“

      Ich hatte den Eindruck, dass der Mann auf meiner Seite war. Später bestätigte mir auch Professor Thun, dass Herr Leiblein erklärt hatte, ihm komme die Sache durchaus harmlos vor, seiner Meinung nach werde hier ein „vollkommen Unschuldiger“ in Haft gehalten, und er hoffe, ich werde bald in Freiheit gesetzt werden.

      So hatte ich denn begründete Hoffnung, auf vollständig legalem Wege das deutsche Gefängnis verlassen zu können. Trotzdem stiegen immer wieder Zweifel in mir auf, und der Gedanke an die Flucht kam immer von neuem. In der ersten Zeit meiner Haft wäre diese Flucht bei einiger Hilfe von auswärts auch durchaus nicht schwierig gewesen.

      Als ich so zwischen Hoffnung und Fluchtplänen hin und her schwankte, wurde ich eines Tags in das Besuchszimmer geführt.

      * * *

      Der Rechtsanwalt

       Der Rechtsanwalt

       Ich erwartete, dort Professor Thun zu finden, und war erstaunt, als ich einem mir gänzlich unbekannten Manne gegenüberstand. Er nannte mir seinen Namen, der mir leider jetzt entfallen ist, und teilte mir mit, er sei Rechtsanwalt, und meine Freunde hätten ihn aufgefordert, meine Verteidigung zu führen; er gerierte sich sofort als Mitglied der deutschen Sozialdemokratie, als Parteigenosse und forderte mich auf, ganz offen gegen ihn zu sein, da meine Freunde ihm bereits alles, was meine Vergangenheit anbetreffe, erzählt hätten.

      „Sie wollen einen Fluchtversuch unternehmen?“ fragte er mich im Flüsterton, und als ich bejahte, erwiderte er eifrig: „Das wäre ein unverzeihlicher Schritt Ihrerseits! Ich habe soeben die Akten eingesehen. Ihre Sache steht sehr günstig, und ich zweifle nicht, dass man Sie bald freilässt. Warum wollen Sie sich der Gefahr einer Flucht aussetzen?