Als die Zeit des Abendessens gekommen war, begab ich mich also in das Speisezimmer, wo Mr. Wallace schon auf mich wartete. Heute gab er sich wie früher. Er stand sofort auf, rückte meinen Stuhl zurecht und schoss gleich die ersten Fragen nach meinen Tageserlebnissen ab. Ich beschloss, nicht lange mit meinem Anliegen hinterm Berg zu halten. Und so antwortete ich zunächst einsilbig auf seine Fragen.
Als Thomas das Essen aufgetragen hatte, sagte ich rundheraus:
„Ich muss dich um etwas bitten, Onkel!“
Er antwortete:
„Was immer du willst, mein Junge.“
„Nun denn“, gab ich zurück „es hat mit der Wahrheit zu tun, die du mir vor einiger Zeit berichtet hast“.
Ich merkte, wie er hörbar einatmete und sich versteifte, fuhr aber unbeirrt fort.
„Wie du dir sicher schon gedacht hast, habe ich viel über diese Geschichte nachgedacht.“
Er wollte hier schon einhaken, ich unterbrach ihn aber und sprach weiter:
„Ich möchte dir zunächst sagen, dass ich meine Worte an jenem Abend bereue. Ich halte dich weder für einen Feigling, noch werfe ich dir weiterhin vor, zu früh aufgegeben zu haben.“ Ein hörbares Ausatmen … „Ich möchte dir sagen, dass ich dir dankbar bin, für alles was du für mich und meine Familie getan hast. Nichts davon war selbstverständlich.“
Hier machte ich jetzt eine Pause, so dass er aussprach:
„Ich bin froh, dass du so denkst. Du weißt, ich bin für dich da!“
Ich konnte ihm seine Rührung ansehen und er konnte ein Seufzen nur schwer unterdrücken. Daher fuhr ich fort.
„Ich habe nur eine Bitte in dieser Sache, Onkel.“
Er schaute mich jetzt voll an und ahnte wohl, was ich nun fragen wollte.
„Ich möchte, dass du noch ein einziges Mal Nachforschungen in Taos anstellst und versuchst, in Erfahrung zu bringen, ob sich nicht doch noch jemand nach unserem Verbleib dort erkundigt hat.“
Er sagte:
„Das habe ich schon getan, Junge!“
Ich wollte gleich wieder aufbrausen, weil ich annahm, er wollte auf seine Erkundigungen vor nun schon zwölf Jahren hinweisen, aber er winkte ab und machte deutlich, dass ich ihn ausreden lassen solle. Also hörte ich zu und schluckte meinen Ärger hinunter. Er sprach also weiter:
„Gleich nach unserem Gespräch vor einigen Wochen, habe ich jemanden beauftragt, erneut in Taos nach Spuren deiner Familie zu suchen. Der Mann wird voraussichtlich nächste Woche wieder hier sein und mir Bericht erstatten. Er hat mir aus Albuquerque telegraphiert. Die Nachricht kam gestern mit einer Postfracht aus St. Louis.“
Die ersten Telegraphen waren inzwischen in den Staaten in Benutzung. Noch verfügte nicht jedes Nest über die notwenigen Stationen, aber zwischen St. Louis und Albuquerque gab es wohl schon solche Verbindungen.
Ich vergaß vor Aufregung über diese Neuigkeit zunächst, mich bei Mr. Wallace zu bedanken und fragte als erstes:
„Wer hat denn diesen Auftrag angenommen? Hat er schon etwas mitgeteilt? Gibt es eine Spur?“
Er antwortete:
„Eins nach dem anderen, zunächst das dringlichste, … ja es gibt ein Lebenszeichen!“
Ich sprang, ob dieser Neuigkeit, erregt von meinem Stuhl auf, fasste ihn am Arm und fragte:
„Wirklich, wirklich ein Lebenszeichen? Von wem? Von meiner Mutter? So sprich doch endlich!“
„Junge, beruhige dich doch, ich sprach absichtlich von einem Lebenszeichen, nicht von einer Spur. Lass‘ es mich erklären, soweit ich selbst darüber informiert bin. Also der Mann hat herausbekommen, dass eine Indianerin sich gut zwei Jahre nach unserem Weggang aus Taos bei unserem damaligen Vermieter nach uns erkundigt hat. Weil ich aber auch diesem Vermieter nicht gesagt hatte, dass wir weggehen würden und schon gar nicht wohin, lief diese Erkundigung wohl ins Leere. Jedenfalls hat der Vermieter danach niemals mehr etwas von der Indianerin gehört oder gesehen.
Ich mache mir nun noch größere Vorwürfe, nicht schon damals nachhaltiger geforscht zu haben. Vielleicht hätten wir deine Mutter noch finden können. Denn, dass diese Indianerin deine Mutter war, steht bei mir fest.“
„Aber du hast aus deiner Sicht damals alles getan, was zu tun war. Du kannst nichts dafür. Sie ist ja erst sehr lange nach unserem Weggang aus Taos dort aufgetaucht. Du musstest davon ausgehen, dass sie tot war. Das habe ich inzwischen verstanden.“
Nach einer kurzen Pause fuhr ich dennoch aufgeregt fort:
„Und doch ist es jetzt so, dass sie wohl zumindest damals noch lebte und nach uns geforscht hat. Hat der Mann denn noch weiteres in Erfahrung bringen können? Weiß man, wohin sich meine Mutter damals gewendet hat? Gab es Hinweise auf den Aufenthalt meines Bruders? Was war mit meinem Onkel Derrick?“
„Leo, ich kann dir noch nicht alle deine Fragen beantworten. Aber es ist so, dass es wohl einige Tage gedauert hat, diesen Vermieter ausfindig zu machen. Er wohnt längst nicht mehr an der mir bekannten Adresse. Er hat das Haus verkauft und lebt nun außerhalb von Taos auf einem Rancho. Er konnte sich nur noch an die Indianerin erinnern, die sich nach den seltsamen Leuten erkundigt hatte, die eines Tages einfach so über Nacht verschwunden waren. Mehr war aus dieser Quelle nicht herauszuholen.“
„Aber es gibt nun wenigstens Hoffnung, dass meine Mutter noch lebt und vielleicht sogar meinen Bruder gefunden hat. Vielleicht kann ich die beiden und auch meine Tante eines Tages finden, … ich muss unbedingt mit dem Mann sprechen, der in deinem Auftrag in Taos war.“
„Ja, das sollst du auch. Höre dir zunächst mal an, was er noch zu berichten hat. Dann sehen wir weiter!“
„Danke Onkel, danke, dass du noch einmal Erkundigungen eingeholt hast.“
„Das war das Mindeste. Unser Gespräch über deine Familie ließ mich nicht mehr los. Was, wenn ich doch einen Fehler gemacht hätte, indem wir zu früh von Taos fortgingen und ich meinen jetzigen Namen annahm, um keine Hinweise zu hinterlassen? Ich werde mir jetzt immer die Frage stellen müssen, ob ich falsch gehandelt habe, und dich damit um deine wahre Familie gebracht habe. Das tut mir leid und ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.“
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Einige Tage zuvor, hatte ich ihm insgeheim die gleichen Vorwürfe gemacht, jetzt hatte ich ihm aber verziehen. Dennoch hatte er wohl recht, es war ein Fehler gewesen und wir waren nicht in der Lage, diesen Fehler zu beseitigen. Ich umarmte ihn, weil mir vor Rührung die Tränen in die Augen traten und er schlang die Arme auch um mich. So standen wir einige Zeit und schwiegen. Was gab es auch zu sagen?
Als wir uns voneinander lösten, sah ich, wie er sich über die Augen wischte. Er holte tief Luft, setzte sich wieder und deutete mit einer Geste an, ich solle mich auch wieder hinsetzen. Dann sagte er:
„Der Mann, den ich beauftragt habe, ist in seinen jungen Jahren bereits ein berühmter Prairiemann. Er wird Old Firehand genannt. Bestimmt hast du schon von ihm gehört. Er ist erst vor wenigen Jahren aus Deutschland hier herübergekommen, hat sich den Pelzjägern angeschlossen und wohl auch einige Zeit bei den Indianern herumgetrieben. Er spricht einige indianische Sprachen und besitzt alle Fertigkeiten, die ihn zu einem guten Scout und Prairiemann machen.
Ich war der Ansicht, es sei besser, einen solchen Mann mit dieser Sache zu betrauen, als einen Polizisten oder einen Detektiv. Hätte er eine Spur gefunden, hätte er sich selbst auf dieselbe gesetzt, auch wenn sie ihn noch weiter in die dark and bloody grounds9 geführt hätte. Das konnte ich nur einem solchen Mann anvertrauen.“
Ich hatte natürlich schon von diesem Prairieläufer und Jäger gehört. Von ihm wurden sich die tollsten Taten berichtet. Er sollte schon