Geschähe ihr recht, wenn sie patschnass würde, grolle ich innerlich. Warum kann sie nicht wie die anderen Passagiere entspannt und spritzgeschützt an der Reling stehen, das strahlende Wetter und die Skyline von Vancouver genießen? Das Garn des Seemannspullis juckt am Hals. Gedankenverloren reibe ich über die Stelle bevor ich bemerke, dass das Nachziehen des Keilriemens vor der heutigen Fahrt Spuren hinterlassen hat. Ich starre auf meine ölverschmierten Hände und runzle die Stirn. Vor Beginn meiner Schicht im Lokal darf ich nicht vergessen, die dunklen Ölränder unter den Fingernägeln mit Waschpaste zu schrubben. Die Zeit wird knapp sein.
„Nein, die Schnittmuster sind Gold wert. Schick sie bitte nicht unverschlüsselt. Egal, was dir Karl rät.“
Zum wiederholten Mal frage ich mich, was diese Frau überhaupt auf der Sightlady tut, wenn sie kein Interesse an dem Trip hat? Ich spüre, wie sich die kleine Falte zwischen meinen Augenbrauen zu einer Zornesfurche vertieft, während ich das Boot geschickt durch die Wasserstraße lenke. Warum nur reagiere ich so stark auf sie? Oder auf diese bescheuerten Namen? Margot, Ingrid, Karl ... fehlt nur noch Walter beziehungsweise Gertrud! Jetzt schmunzle ich fast wieder. Wenn ich ehrlich bin, bietet sie mir eine hervorragende Zielscheibe für meine schlechte Laune. Tief atme ich ein und aus und hoffe, die salzige Seeluft wird mich runterbringen. Das hilft immer. Eine Weile lausche ich dem gleichförmigen Tuckern des Motors. Der Keilriemen scheint zu halten. Eigentlich alles in Ordnung. Ich nehme mir fest vor, die Frau von jetzt an zu ignorieren. Schließlich hat sie bezahlt und es ist ihr Bier, ob sie telefoniert oder Spaß hat.
„Na, Adonis, weshalb so schlecht gelaunt?“ Ich verdrehe die Augen, und wende mich meinem Freund Neil zu, der mit verschränkten Armen und grinsend im Türrahmen der Fahrerkabine lehnt. Zugegeben sieht Neil selbst in dem unförmigen Overall attraktiv aus. Ich erkenne neidlos an, dass Neils rotblonde Locken durch das knallige Gelborange des Anzugs interessant wirken, anstatt sich mit dem Farbton zu beißen. Bevor ich es im Griff habe, huscht mein Blick zu der Frau, die Neils breiten Rücken mustert, während sie telefoniert. Ist klar. Frauen wie sie fahren auf Neil ab. Er hat diese Ausstrahlung. Die Aura eines erfolgreichen Anwalts. Selbst wenn er keinen Anzug sondern Ölzeug trägt. Meine Stimmung rutscht unerklärlicherweise tiefer in den Keller. Mir fällt ein, dass ich Neil eine Antwort schulde und reibe mir übers stoppelige Kinn.
„Ich bin müde. Es war viel los im Heidelberg gestern Abend“, versuche ich, mir und Neil meine Laune zu erklären. Sollte ich von Neil erwarten, zu wissen, weshalb ich an diesem Jahrestag so schräg drauf bin? Immerhin ist der Rotschopf mein bester Freund. Wenn ich darüber nachdenke: warum sollte er? Wenn wir zusammen abhängen, meistens bei Surftrips, sprechen wir nie über die Geschehnisse von damals. Ich bezweifle, dass der lebensfrohe Neil versteht, weshalb mir die Sache noch Jahre später nachhängt. Er hält mich wahrscheinlich für eine Dramaqueen. Schließlich kann ich mich selbst in diesem Zustand kaum ertragen. Verdammt, was für eine Pussy ich heute bin!
„Wie lange willst du diese Jobs durchhalten? Die ganze Nacht im Restaurant deiner Eltern kellnern. Heute auch noch die Mittagsschicht. Dazu die Kurse und die anstrengende Bootstour. Du musst deinen Eltern endlich klarmachen, die Waltouren haben jetzt für dich Priorität. Denk auch an Bobby. Sie ist deine Geschäftspartnerin.“
Ich seufze und starre auf das glitzernde Wasser vor mir.
„Ja, du hast recht. Ich werde ein wenig mehr Luft haben in nächster Zeit. In der Uni sind nur noch die Sommerkurse. Meine Eltern sagen schon längst, ich soll mich auf meine eigenen Projekte konzentrieren.“
„Reicht es nicht, wenn du ihnen Geld gibst? Du verdienst doch ganz ordentlich.“ Ich schüttele den Kopf. „Es geht nicht um Geld, Neil. Es geht vielmehr um Verantwortung. Ich möchte für die Familie da sein. Ihnen zeigen, dass ich sie tatkräftig unterstütze. Du weißt, dass ich es ihnen schuldig bin.“
Neil blickt mich fragend an.
„Die Geschichte mit Luigi Branca. Du erinnerst dich? Heute ist es genau fünf Jahre her.“
Sein Gesicht erstarrt.
„Ist Laura tatsächlich schon fünf Jahre ... tot?“
Ich nicke nur.
„Jetzt verstehe ich, warum du mich ausgerechnet heute zu der Tour eingeladen hast.“ Sein Ton klingt ernst und er mustert mich eindringlich. Shit, er hat doch nicht etwa Mitleid? Das ist das Letzte, was ich brauche.
„Ehrlich gesagt wurde es langsam Zeit, dass du mal mitfährst. Außerdem musstest du auch mal raus aus deiner Kanzlei. Gib es zu.“ Ich grinse Neil schief an und bin erleichtert, als er leise lacht.
Wir hängen beide eine Weile unseren Gedanken nach. Bei der Erinnerung daran, was dieser Scheißkerl mir und meiner Familie damals angetan hat, kocht Wut meine Kehle hoch. Brennend heiß. Auch nach Jahren kein bisschen abgekühlt.
Werde ich jemals damit abschließen können?
Als ich meinen grimmigen Blick wieder zu Neil hebe, hat dieser sich von mir abgewandt. Er mustert die Frau im Anzug, die mittlerweile mit dem Rücken zu uns steht und leckt sich kurz über die Lippen. Ich stöhne innerlich, als mir aufgeht, was los ist. Sein Ausdruck gleicht dem einer Katze, die Beute im Gras entdeckt hat. Dass meinem Freund kein Sabber aus dem Mund tritt, ist erstaunlich. Ich blicke zur Frau. Sie telefoniert immer noch. Nicht ahnend, dass ihr wohlgeformtes Hinterteil die volle Show bietet. Ich versuche, mich in meinen Freund hineinzuversetzen. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erfüllt diese Anzugtussi genau Neils Beuteschema. Er steht auf erfolgreiche und vermutlich dominante Frauen, die übellaunig sind. Wie hat er noch versucht, mir das zu erklären? „Das ist keine schlechte Laune, das ist Autorität. Nette Weiber sind langweilig.“ So ein Unsinn! Die Sanften mit Rehblick sind mir auf jeden Fall sympathischer. Frauen wie Bobby. Oder Laura damals. Schnell verdränge ich die Erinnerung. Dennoch: aus einem unerfindlichen Grund stört es mich, dass Neil die nervige Passagierin entdeckt hat und so offensichtlich abcheckt. Das ist schließlich mein Boot und ich habe Neil für heute eingeladen. ‚Anmachen der Kunden verboten!’, braut sich gerade als Satz in meinem Kopf zusammen, als ein Rufen vom Bug mich aus den Gedanken reißt. Einer der Gäste zeigt aufgeregt nach Backbord. Mist, jetzt habe ich wegen der Tussi und Neil glatt den Job vergessen. Mein Blick scannt die gezeigte Richtung und ich konzentriere mich auf die Wasseroberfläche.
Da! Ein helles Aufblitzen! Das Fernglas hebend, drossle ich den Motor. Das sind doch ...?! Ich traue meinen Augen kaum. Mein Herz begreift vor dem Verstand, um welche Walart es sich handelt und klopft freudig. Wie jedes Mal, wenn ich die Fluken der Tiere entdecke. Sofort ist meine trübe Stimmung weggeblasen. Aufgeregt greife ich zum Mikrofon.
„Danke für die Mithilfe. Wir haben Glück. Das sind Grauwale, die sich äußerst selten in die Bucht begeben. Normalerweise sind sie nur auf der Pazifikseite von Vancouver Island aus zu sehen. Ich bringe uns vorsichtig heran.“ Über Funk gebe ich Bobby, die in der Station im Hafen die Stellung hält, aufgedreht die genauen Koordinaten der Sichtung durch. Kaum habe ich aufgelegt, weht wieder die Stimme der Frau zu mir herüber.
„Bist du dir sicher? Überprüf die Zahlen noch einmal. Verdammt, warum dauert das so lange?“ Meine euphorische Stimmung kühlt schlagartig ab. Wie kann sie ausgerechnet jetzt telefonieren? Bekommt diese Frau nichts vom Leben mit? Da sind Wale. Grauwale!
Na warte, der zeige ich’s.
„Aaaachtunnng!“
Grimmig reiße ich das Steuer herum. Das Boot bäumt sich kurz auf. Die Passagiere kreischen und suchen lachend Halt am Geländer. Wie von mir geplant, schwappt eine ordentliche Welle die Längsseite des Bootes entlang. Das deutsche Fluchen zu meiner Linken wird deftiger. Zufrieden sehe ich aus dem Augenwinkel, dass mein Zielobjekt sich mit letzter Mühe an der Reling festkrallt. Ihre Hand, in der vorher noch das Handy gelegen hat, ist leer. Wie ein begossener Pudel steht sie da und versucht zu verarbeiten, was mit ihr geschehen ist.