»So wird es gehen. Obwohl? Mir wäre es lieber, es bliebe etwas mehr Platz dazwischen. Eine fehlende Distanz kann zu völlig falschen Ergebnissen führen.«
Die blondierte Mittdreißigerin gegenüber lässt den Kugelschreiber in der linken Hand rotieren. Irritiert sieht er dem Spiel zu. Dabei verrutscht sein Ellbogen und verschiebt das rechte der sorgfältig ausgerichteten Blätter.
»Oh, Entschuldigung. Die Übersicht. Das war mein Fehler.«
»Herr Muckel, Sie sind hier, weil Sie sich zu viel Sorgen machen. Ihre Ängste, etwas zu übersehen, nicht aufgeschrieben zu haben oder falsch aufzufassen, die erzeugen Stress. Der bewirkt eine Rückkopplung und Sie verlieren sich in Details. Ihr Verlangen nach Perfektion und die Ansprüche werden dadurch höher und Sie sind mit Ihren Leistungen nie zufrieden. Damit rennen Sie in eine Sackgasse, in der es nur einen Ausweg gibt: umkehren und in die entgegengesetzte Richtung gehen.«
Sie bemerkt, dass er irritiert auf den rotierenden Kugelschreiber starrt und auf dem Stuhl hin und her rutscht. Er versuchte mehrmals, sie zu unterbrechen, doch sie redete unbeirrt weiter. Erst jetzt bekommt er Gelegenheit, seinen Standpunkt darzulegen.
»Warum entgegengesetzt? Ist es denn falsch, den Job besonders gut machen zu wollen?«
Sie schlägt ihre Beine übereinander. Umständlich entnimmt sie dem Behälter für die Kugelschreiber eine lange Haarnadel und steckt sie sich in den Haarknoten, der vorher bereits perfekt saß. Er runzelt die Stirn, greift zum Stift und möchte etwas zu Papier bringen. Dann stoppt er unvermittelt die Bewegung und platziert ihn wieder exakt mittig über dem linken Blatt.
»Sehen Sie, das, was Sie soeben veranstaltet haben, war eindeutig ein Anzeichen Ihrer Psychose. Sie ist bekannt als anankastische Persönlichkeitsstörung. Damit sind Sie nicht in der Lage, wichtige Dinge von unwichtigen zu unterscheiden. Sie bestehen auf Ihren Prinzipien und Normen und können es schwer ertragen, davon abzuweichen. Was wollten Sie gerade aufschreiben?«
Er stutzt, überlegt, ob er es zugeben soll.
»Ich fand es merkwürdig, dass Sie sich bei unserem Gespräch Zeit für Ihr Haar nehmen. Außerdem ist eine zusätzliche Haarnadel unnötig, sie hat keinen praktischen Nutzen. Das wollte ich skizzieren und zu meinen Aufzeichnungen legen.«
Sie schmunzelt. Es fällt ihm schwer, nicht nach dem Stift zu greifen. Stattdessen versucht er, den Ausdruck in ihrem Gesicht einzuordnen. Für ein Auslachen ist es nicht ausdrucksstark genug. Aber was fand sie lustig?
»Steht die Nadel in meinem Haar in irgendeinem Zusammenhang mit dem Fall, an dem Sie arbeiten?«
Seine linke Hand umkrampft die rechte, die wie ferngesteuert nach dem Stift greifen möchte.
»Der Fall? Haarnadel, Foto, Sektglas, Herz. Die Haarnadel durchstößt das Herz? Mit der Nadel erstochen und im Garten verscharrt? Das ist statistisch gesehen sehr unwahrscheinlich. Sie haben mit dem Fall bislang keine Berührungspunkte und wurden von mir nach anderen Kriterien ausgesucht. Ich bin hergekommen, weil, weil … Sie haben recht, das mit der Nadel muss ich überhaupt nicht notieren. Aber schaden kann es auch nicht.«
Sie sieht ihn lange scharf an, bis er den Kopf hängen lässt.
»Es wäre überflüssig, stimmt’s?«
»Nicht nur überflüssig, es ist kontraproduktiv. Ich habe hier einen wunderbaren Tee, Melisse, Hopfen, Baldrian. Sie trinken doch mit mir einen Tee?«
Er sieht immer noch angespannt auf die sechs Blätter auf dem Schreibtisch, sucht nach einer Verbindung zwischen der Haarnadel und dem Fall.
»Ich habe verstanden. Baldrian, ja? Dabei bin ich überhaupt nicht aufgeregt oder nervös. Allerdings ist es unbefriedigend, dass ich mir unbedeutende Details merken muss.«
»Na, na. Halten Sie eine zusätzliche Nadel in meinem Haarknoten für unbedeutend?«
Er sieht sie an und errötet.
»So war das nicht gemeint. Nur mit dem aktuellen Fall kann die Nadel nicht zusammenhängen.«
Erleichtert erkennt er, dass sie nickt.
»Was würden Sie denn sagen, wenn ich Ihnen verrate, dass ich an der Nadel hänge?«
Seine Stirnfalten werden tiefer. Der Blick irrt über die sechs Blätter, dann sieht er vorwurfsvoll in ihr Gesicht.
»Sie hängen an der Nadel? Abhängig vom Heroin? Aber Sie sind meine Therapeutin, da wäre es schlecht, wenn Sie zusätzlich …«
»Ganz ruhig, Herr Muckel, tief durchatmen. Der Begriff ›An der Nadel hängen‹ ist eine Redewendung. Das Wort ›hängen‹ habe ich dabei als Polysem verwendet, da es in dem Satz unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Es sollte ein Scherz sein.«
»Heroinsucht ist nicht witzig. Moment, Sie sagten ›hängen‹ ist was? Sie hängen an der Nadel … Sie mögen die Nadel, eigentlich Ihre Haarnadel. Sie sind überhaupt nicht süchtig, sondern in Ihre Haarnadel verliebt. Puh, ein schwieriger Witz. Ohne Ihre Hilfe wäre ich da niemals drauf gekommen.«
»Es war ein Test, ob Sie in der Lage sind, Scherze als solche zu erkennen. Im Endeffekt haben Sie ihn ja auflösen können. Sie befinden sich damit auf Stufe eins, was nicht heißt, dass es so bleiben kann. Fehlende Flexibilität im Denken und Handeln sind bei Ihrem Krankheitsbild oft so drastisch ausgebildet, dass eine Umkehr einer gefassten Meinung unmöglich wird. Herr Muckel, bei Ihnen jedoch habe ich Hoffnung, dass Sie es schaffen können.«
»Wie heißt das? Polysem? Ich werde mir ein Wörterbuch der Polyseme anschaffen und alle auswendig lernen. Dann falle ich nicht wieder so plump darauf rein.«
Dabei sieht er wie hypnotisiert auf die Nadel im Haarknoten. Auf seinem Gesicht erkennt sie die Frage, ob es möglich sein kann, an einem so banalen Hilfsmittel zu hängen.
»Nein, hören Sie sofort damit auf. Es geht hier nicht um Fachwissen, vielmehr um die Flexibilität des Geistes. Sie sollten sich niemals zu früh eine feste Meinung bilden, sondern verschiedene Optionen in Erwägung ziehen. So wie beim Wort ›hängen‹.«
»Aber solche Scherze dürfen Sie mit mir nicht machen. Ich hatte ernsthaft überlegt, welcher Therapeut denn wohl für eine Therapeutin zuständig ist.«
»Nun gut. Lassen Sie sehen, wie Sie meine übrigen Empfehlungen umgesetzt haben. Sie erinnern sich, warum Sie zur Therapie gekommen sind? Erklären Sie mir das bitte noch einmal aus Ihrer Sicht.«
Irritiert sieht er auf den Kugelschreiber in ihrer Hand, der die Bewegungen der Rotoren eines Helikopters imitiert.
»Es war der Zusammenbruch. Die achtundvierzig Bögen passten nicht mehr nebeneinander auf den Schreibtisch, deshalb habe ich den Fußboden dazu genommen. Das Querlesen funktionierte nur unzureichend. Bei jeder Zeugenbefragung hatte ich zwanzig eng beschriebene Seiten notiert. Beim Nachschlagen kam ich durcheinander. Ich erinnere mich, dass mir schwarz vor den Augen wurde und ich Minuten später auf den Boden liegend aufwachte. Zu viele Informationen. Alle wichtig, das ist klar, das kann nur ein Großrechner des FBI bewältigen. Aber die können meine Notizen bestimmt nicht lesen. Ich war so verzweifelt, dass ich, dass ich …«
Er greift zum Tee, nimmt vorsichtig zwei Schluck. Sie erkennt, dass er sich bemüht, nicht das Gesicht zu verziehen.
»… dass Sie einen Zusammenbruch bekamen. Und nicht nur einmal.«
Sie nickt ihm aufmunternd zu.
»Genau aus dem Grund habe ich vorgeschlagen, das Ganze minimalistisch anzugehen. Sie sollten unbedeutende Details ausblenden und sich pro Tag nur einen einzigen Stichpunkt herausgreifen. Keinen Text, nur einfache Symbole. Wie ich sehe, hat das ja wunderbar geklappt. Erklären Sie mir anhand der Beispiele auf den Blättern bitte, was Sie bewegt hat. Ich möchte weder Namen noch Details hören. Ich bin eine unbeteiligte Person und werde das auch bleiben.«