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Kristina Kieslinger | Freiburg i.Br.
geb. 1989, Dr. theol., Referentin für Theologie und Ethik beim Deutschen Caritasverband e.V. und Dozentin an der Fortbildungsakademie des Verbandes
Kenosis und Centering Prayer
Jeden Tag den Weg Christi gehen
Selbstentäußerung – ein Begriff, der schwer verdaulich in den Ohren von Menschen des 21. Jahrhunderts klingt. Bei manchen mag er Bilder von ausgemergelten, sich selbst geißelnden Mönchen hervorrufen. Im besten Sinne ist das damit Gemeinte weltfremd und nicht für Menschen, die mitten im Leben stehen, geeignet. Es ist vermeintlich also kein Wunder, dass dieser Artikel seinen Ausgangspunkt bei einem Trappisten, Thomas Keating OCSO1, nimmt, gehört der Orden doch bis heute zu einem der strengsten, welche die katholische Ordenstradition zu bieten hat. Die folgenden Ausführungen zeigen, dass dem nichts ferner liegt, sondern dass Selbstentäußerung viel mehr als urchristliche Haltung und Weg Jesu nur im Alltag und von „ganz gewöhnlichen“ Menschen gelebt werden kann. Hierzu bewegt sich der Artikel im Kontext des Centering Prayer, eine von Thomas Keating entwickelte Gebetsmethode, die das Sitzen in Stille für 20–30 Minuten zweimal täglich empfiehlt. Dessen theologische Grundlagen werden mit Blick auf das Theologumenon der kenosis dargestellt. Hierbei fließen Überlegungen von Cynthia Bourgeault mit ein; sie war 30 Jahre lang Schülerin von Keating. Als zweiter Schritt schließt sich das Centering Prayer als „Kenosis in Meditationsform“2 an, um drittens die Auswirkungen und das Verhältnis zum Alltag der Praktizierenden zu beleuchten.
Kenosis theologisch: die Demut Gottes annehmen
Will man sich der Bedeutung der kenosis im Kontext des Centering Prayer nähern, ist dort zu beginnen, wo auch diese Gebetsmethode ihren Anfang nimmt: bei der Lehre von der Einwohnung der Trinität im Menschen.3 Nach Keating ist die Quelle und der theologische Ausgangspunkt des Centering Prayer die Trinitätslehre. Die Personen der Trinität – Keating lehnt sich an eine klassische Formulierung an – kreieren durch einen Überfluss an Liebe eine Beziehungsdynamik liebender Selbsthingabe.4 Keating geht so weit zu sagen, dass der Vater nicht weiß, wer er ist, bis er im Sohn sein ewiges Wort spricht.5 Der Sohn schenkt sich im Gegenzug vollständig dem Vater. Der Heilige Geist ist das Band endloser Liebe zwischen den beiden.6 „In the Trinity, there is no self, no possessive attitude. Everything is self-surrender. Everything is gift. Everything is love.“7 Die göttlichen Personen gehen so sehr ineinander auf, dass sie gar nicht an ihrer jeweiligen Einmaligkeit festhalten wollen. Ihre Liebe füreinander ist so groß, dass sie in vollkommener Gelassenheit sich selbst hingeben. Damit lässt sich das Verständnis von Trinität bei Keating im Kern als Demut bestimmen.8 Dieser Aspekt ist zugleich jener, der für den Menschen das größte Rätsel darstellt, da Gottes Eigenschaft, eben nicht mit seiner Göttlichkeit identifiziert zu sein, dem Streben des Menschen diametral entgegensteht: Der Mensch möchte Gott sein – aber nach eigenen Spielregeln.9 Dies ist im Auge zu behalten, wenn Bourgeault schreibt, dass die kenosis die theologische Grundlage des Centering Prayer ist.10 Der Kern des Keating’schen Trinitätsverständnisses ist die liebende Selbsthingabe der göttlichen Personen, womit die Aussage Bourgeaults eine wertvolle Präzisierung Keatings darstellt.
Denn kenosis ist – im Kontext des Centering Prayer – gar nicht nur rein innertrinitarisch zu denken: Sie zieht sich gewissermaßen über die Inkarnation hin durch bis zur Berufung des Menschen. Die Inkarnation ist von zentraler Bedeutung für das theologische Verständnis des Centering Prayer, da in ihr die Demut und Liebe Gottes wie in einem Brennglas deutlich hervortritt. In ihr zeigt sich, wie Gott ist: Er macht sich in seiner endlosen Liebe für den Menschen total zugänglich und in den Worten Keatings „verfügbar“11. Bourgeault führt dies weiter aus, indem sie die kenosis als „Weg Jesu“12 darlegt. Sie beruft sich hierbei auf die wohl eindrücklichste biblische Stelle für die Selbstentäußerung des göttlichen Logos: den Philipper-Hymnus (Phil 2,6–11). Die selbstentäußernde Liebe Jesu bildet „den Kern seines Selbstverständnisses und seiner Art zu leben“13. Jesu Lebensentwurf verdichtet sich in der Szene im Garten Gethsemane, in welcher der Evangelist Lukas Jesus diese Worte in den Mund legt: „Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen“ (Lk 22,42). Durch die völlige Hingabe an den Willen Gottes und durch das Loslassen von allem, was Jesus als den Christus ausmacht, geschieht Verwandlung.14 Im Aufschrei Jesu am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46) kulminiert seine kenotische Existenz. In diesem Moment äußerster Verzweiflung und Entfremdung von Gott, in der Jesus all dessen beraubt wird, wofür er steht (seiner Botschaft vom Reich Gottes und der Beziehung zu Gott als „Abba“) geschieht Erlösung. Durch das Annehmen der conditio humana und die Erfahrung der absoluten Gottverlassenheit konnte die menschliche Bedingtheit verwandelt werden.15
Keating und seine Schülerin Bourgeault verstehen kenosis also weniger als ein Leerwerden oder eine Entäußerung von göttlichen Eigenschaften, sondern als ein Geben und Empfangen: ein Sich-Hingeben der göttlichen Personen aneinander und an den Menschen. Kenosis ist ein Empfangen und Annehmen-Können von Liebe, weiß sich doch der Mensch nicht mehr von der Quelle der Liebe – der göttlichen Trinität – getrennt, sondern durch die Entäußerung des Logos in der Inkarnation und der Hingabe Jesu Christi am Kreuz aufs Innigste mit ihr verbunden. Kenosis im Kontext des Centering Prayer kann in dem von Keating geprägten Begriff der „non-possessive attitude“16, der Nicht-Anhaftung oder des Nicht-Verstricktseins, auf den Punkt gebracht werden.
Kenosis im Gebet: auf dem Hocker mit Jesus sterben
Diese theologischen Überlegungen sind nun in die Praxis des Centering Prayer, welche sich direkt daraus speist, zu übersetzen. „Kenosis auf dem Hocker“, also in der Zeit des Gebets, ist eine Einübung in die Haltung der non-possessiveness, wie sie in der göttlichen Trinität und im Leben Jesu Christi in vollendeter Form verwirklicht wird. Dies passiert in der Sichtweise Keatings unter dem Vorzeichen des „Falschen Selbst“17. Unter dem Falschen Selbst versteht Keating bestimmte Muster, bestehend aus Kompensationsmechanismen der frühen Kindheit. Diese musste sich der Mensch aneignen, um die Frustration, Nicht-Erfüllung oder gar Vernachlässigung seiner Bedürfnisse nach Sicherheit, Anerkennung und Selbstwirksamkeit ausgleichen zu können.18 Bis zu einem gewissen Alter sind diese Mechanismen überlebensnotwendig, werden im Laufe des Erwachsenwerdens aber dysfunktional. Ergänzt (und verschärft) wird dies durch die Überidentifikation mit der eigenen Gruppe – Familie, Peers, Glaubensgemeinschaft etc. – und deren Werten. Die Kombination dieser beiden Komponenten verstrickt den Menschen in ein Netz aus egozentrischen Bedürfnissen, an deren Wurzel für Keating jedoch der separate-self sense steht: das Gefühl, von Gott getrennt zu sein. Dieses stellt nach Keating allerdings die größte Illusion des Menschen dar!19
Auf diesem Hintergrund besteht ein großer Teil der spirituellen Reise im Loslassen von „emotionalem Müll“20, wie Keating es nennt. Hierfür spielt die Form der Methode des Centering Prayer eine zentrale Rolle: In den zweimal 20–30 Minuten, welche die Betenden der Übung täglich widmen sollten, geht es um Absicht (intention), Einwilligung (consent) und Hingabe (surrender). Die Keating’sche Unterscheidung zwischen Gebetsmethoden, die einerseits den Fokus auf Aufmerksamkeit (attention) und andererseits auf Absicht (intention) legen, ist hier entscheidend: Das Centering Prayer ist keine konzentrative Methode, um den Geist auszurichten. Sie beruht vielmehr darauf, die Absicht zu erneuern, sich in der Zeit des Gebets ganz für die Präsenz und das Wirken Gottes zu öffnen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Bedeutung des Heiligen Wortes („sacred