Iska staunte nicht schlecht, als sie unter dem Busch versteckt ein kleines Boot entdeckte. „Ich habe Angst, Sigmar. Ich kann doch nicht schwimmen!“
„Wir haben keine Wahl. Jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück! Das Boot ist sicher, glaube mir und die Strömung an dieser Stelle nicht allzu stark. Dafür ist der Fluss hier breiter und es wird ein gutes Stück Arbeit werden, ihn zu überqueren. Trotzdem brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“
Iska schaute unsicher über das in der Dunkelheit schwarz vor ihnen liegende, träge fließende Wasser. Dann zeigte sie mit dem Arm auf eine Stelle im Fluss. „Was ist das?“
Sigmar folgte mit dem Blick ihrem Arm. Auf dem Fluss tanzten plötzlich einzelne Lichter. Die Entfernung war zu groß, um Einzelheiten ausmachen zu können, aber der Krieger wusste sofort, worum es sich handelte. „Das sind Boote, die den Rhenus herauf- oder herunterfahren.“ Er hoffte, dass Iska mit seiner Antwort zufrieden sein würde. Aber da täuschte er sich in seiner Begleiterin.
„Nachts? Was machen die Boote in der Dunkelheit dort? Erzähl mir nicht, dass jetzt Waren transportiert werden! Bei der Dunkelheit.“
Sigmar sah sich in seiner Hoffnung, sie mit der kurzen Erklärung zufrieden zu stellen, getrogen. Trotzdem bewunderte er Iskas wachen Verstand. Trotz dieser gefährlichen Situation war sie immer noch in der Lage, klar zu denken. Iska verfügte zwar nicht über allzuviel Wissen, aber mit Dummheit war sie, bei den Göttern, gewiss nicht geschlagen.
Mit einem Seufzen beschloss er, ihr die Wahrheit, oder zumindest einen Teil davon, zu erzählen: „Nein, das sind keine Transportboote. Das sind Wachen, die auf dem Rhenus hin- und herfahren. Meistens sind die Boote mit zwei bis drei Bogenschützen besetzt. Aber“, Sigmar machte eine kleine Pause, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, „wenn wir darauf achten, ihnen nicht zu nahe zu kommen und uns leise verhalten, dann besteht kaum die Möglichkeit, dass sie uns entdecken.“
Hoffentlich würde Iska das jetzt glauben. Er musste selbst schon oft genug erleben, wie gute Leute durch die Pfeile der Bogenschützen mitten auf dem Rhenus ihr Leben ließen. Einmal konnte er sich selbst auch nur durch den Sprung in das kalte Wasser des Flusses retten. Aber das brauchte das junge Mädchen jetzt nicht zu erfahren. Schon gar nicht, wenn sie nicht einmal schwimmen konnte.
„Iska. Mach dir keine Gedanken. Wir haben sowieso keine Wahl. Bleiben wir hier, ist das unser sicherer Tod. Sieh, die Boote sind gleich vorüber. Sollten die Römer keine Änderungen in den Zeiten, wann die Boote auf und ab fahren, vorgenommen haben, so sind wir längst weit über die Mitte des Flusses hinaus, bevor ein neues Wachboot hier ist. Komm, hilf mir mal.“
Leise drehten sie das Boot herum und schleiften es zum Fluss herunter. Dort ging Sigmar noch einmal die paar Schritte zu den Büschen zurück und kam mit zwei Rudern wieder, die er ins Boot legte. Gemeinsam schoben sie es ins Wasser und Iska stieg vorsichtig in das schwankende Gefährt. Ihr wurde fast schlecht vor Angst. Beinah wäre sie wieder aus der Nussschale herausgesprungen, doch diesen Impuls unterdrückte sie. Sigmar gab dem Boot einen Stoß und schwang sich hinein. Erneut schwankte es bedenklich und Iska klammerte sich ängstlich an der Bordwand fest. Würden sie jetzt umkippen? Doch nichts geschah. Sigmar nahm die beiden Ruder und begann das Gefährt leise aber zielstrebig über den Fluss zu bewegen. Dabei achtete er sorgfältig darauf, möglichst kein Geräusch beim Eintauchen der Ruder in das Wasser, zu machen.
Iska hielt den Atem an. Dies war eine neue Erfahrung für sie und bei dem Gedanken an das viele Wasser unter der dünnen Holzwand überkam sie ein Schaudern und sie spürte, wie ihre Härchen am Körper sich aufrichteten. Angst wollte sie übermannen und mit fest geschlossenen Augen lauschte sie dem leisen, gleichmäßigen Plätschern, das die Ruder im Wasser verursachten. Beide sprachen sie jetzt kein Wort. Iska vor Angst und Sigmar, da er sich ganz auf das Manövrieren konzentrierte. Immer wieder suchte er mit den Augen die Wasseroberfläche nach Wachbooten ab. Aber nur in weiter Ferne schimmerten einzelne Lichter. Mit kräftigen Ruderschlägen trieb Sigmar das Boot zügig voran. Er querte den Fluss nicht zum ersten Mal und um von der Strömung nicht abgetrieben zu werden, hielt er ständig leicht dagegen. Die Wolken gaben den Mond zögerlich wieder frei und das fahle Licht spiegelte sich in den feinen Wellen. Hin und wieder rumpelte etwas gegen den Bootsrumpf. Iska zuckte jedes Mal angstvoll zusammen. Aber Sigmar konnte sie beruhigen, es handelte sich lediglich um Unrat, der im Wasser herumschwamm. Mehr Sorgen bereitete ihm der schwache Schein des Mondes, den natürlich auch die Römer zu nutzen wussten. Doch noch schienen die Wachboote in einem ausreichenden Abstand.
So ruderte er eine ganze Weile und beobachtete angespannt den Fluss. Dann fixierten sich seine Augen auf einen entfernten Punkt im Wasser. Iska saß immer noch mit fest geschlossenen Augen da und hielt sich krampfhaft an den Bootsplanken fest. Sigmar hoffte, sie würde auch weiter die Augen geschlossen halten, denn was da jetzt auf sie zukam, hätte bestimmt nur Panik in dem Mädchen ausgelöst. Sigmar war sich zunächst nicht ganz sicher gewesen, doch jetzt konnte er allmählich deutlich die Fackeln ausmachen. Als würden sie über das Wasser schweben, kamen sie langsam näher. Aber er wusste, dass es nicht nur Fackeln waren. Jede Fackel wurde von einem Soldaten gehalten. Und diese Soldaten saßen in einem der Wachboote, die den Rhenus befuhren. Leise schickte Sigmar ein Gebet an Odin und hoffte, der würde den Wolken einen Stups geben und sie vor den Mond schieben. Aber entweder hatten die Götter andere Pläne mit ihnen oder Odin schlief. Sigmar blickte kurz zum Himmel und sah seine Hoffnung sinken. Keine einzige Wolke näherte sich dem Mond. Bis jetzt schienen sie von den Soldaten noch nicht entdeckt worden zu sein und es würde vermutlich auch noch eine Weile dauern, denn die Patrouille ruderte stromaufwärts. Sigmar verstärkte noch einmal seine Bemühungen und legte ein wenig an Geschwindigkeit zu. Doch immer musste er sich bemühen, möglichst geräuschlos zu rudern. Mehr als ein leichtes Plätschern war auch nicht zu vernehmen. Trotz der leichten Kälte kam er ordentlich ins Schwitzen. Immer wieder wanderte sein Blick zu den näherkommenden Fackeln. Das Boot selbst war noch nicht zu erkennen, die Entfernung noch zu groß.
„Da, sieh Sigmar!“ Iska musste die Augen doch irgendwann geöffnet haben und natürlich hatte sie auch die Fackeln entdeckt.
„Ja, leise, Iska. Das sind die Wachen, aber sie können uns noch nicht sehen. Erst wenn wir ihr Boot erkennen können, dann sind auch wir für sie sichtbar!“ Wieder stieß etwas gegen ihr Boot und Iska stieß einen leisen Schrei aus. „Ruhig, Iska!“ Sigmar kam eine Idee. Während er die Richtung des Bootes etwas mehr gegen den Strom richtete, ruhte sein Blick unverwandt auf dem Wasser. „Iska, beobachte die Fackeln. Wenn du das Boot darunter erkennen kannst, dann sag mir Bescheid! Aber leise, denn wenn die Soldaten uns entdecken, dann haben wir kaum eine Chance zu entkommen.“ Konzentriert suchte er das Wasser rings um ihr kleines Boot ab. Und da - lange brauchte er nicht zu warten! Rasch zog Sigmar beide Ruder ins Boot und beugte sich vorsichtig über den Rand. Bevor das grobe Stück Holz an die Bootswand schlagen konnte, fischte er es aus dem Wasser und legte es vor sich ins Boot. Schon begann sich ihr kleines Gefährt in die Strömung zu drehen und rasch nahm der Mann wieder die Ruder auf und setzte ihren Weg fort. Wie weit war es noch bis zum Ufer? Bei diesem fahlen Mondlicht ließ sich die Entfernung schwer schätzen. Wieder warf er einen Blick auf die Fackeln. Sie waren wirklich noch nicht entdeckt worden, denn der Kurs des Wachbootes lag immer noch so, dass es jetzt hinter ihrem kleinen Boot vorbeifahren würde. Hin und wieder klang ein Lachen oder ein lauter Ton von den Römern zu ihnen herüber. Die Männer fühlten sich sicher und niemand befahl ihnen, keine Geräusche zu machen. Obwohl das Wachboot offensichtlich langsam vorankam, war die Gefahr entdeckt zu werden für Sigmar und Iska inzwischen sehr hoch. Es könnte sich nur noch um wenige Augenblicke handeln, dann mussten die Wachen sie entdecken. Der junge Kämpfer beschloss seine Idee in die Tat umzusetzen. Wieder steuerte er etwas mehr gegen die Strömung, dann nahm er die Ruder erneut ins Boot. Vorsichtig richtete er sich auf, das aus dem Wasser gefischte Holzstück in der Hand. Es war ein schweres Stück Holz, ‚Eiche vermutlich‘, dachte er. Aber eigentlich spielte das ja keine Rolle. Sigmar schätzte die Entfernung zum Wachboot. Jetzt hing alles von seinem Plan und der erforderlichen Präzision ab. Weit holte der junge Mann aus und warf das Holzstück mit voller Kraft seitwärts neben das Wachboot. Kurz konnte er den Flug des Holzes noch verfolgen, dann verschwand es in der Dunkelheit. In diesem Moment tauchte die Spitze des Bootes aus der Dunkelheit auf. Noch waren die