Paula musste unwillkürlich lachen. Sie hätte nicht gedacht, dass sich Daniel noch an diesen Ausspruch erinnern konnte. Irgendwie waren ihre Zusammentreffen seither in den wenigstens Fällen harmonisch verlaufen. Ob sich das in Zukunft ändern würde?
Sie stiegen eine halbe Stunde später Hand in Hand den Berg hinauf. Paula beobachtete ihren attraktiven Begleiter dabei unauffällig von der Seite. Sie fühlte sich wie in einem Märchen, und dazu noch in der Rolle als Prinzessin. War das der gleiche Daniel, den sie zum ersten Mal auf dem Pass getroffen hatte und der ihr arrogant und oberflächlich erschienen war? Jemand, der sich gern in der Bewunderung schöner Frauen sonnte? Annes Bruder, der sich weigerte, Verantwortung zu übernehmen, bei aufkommenden Schwierigkeiten die Flucht ergriff und in erster Linie auf seinen eigenen Vorteil bedacht war?
Sie glaubte inzwischen einen völlig anderen Menschen neben sich zu haben. Einen Daniel, der immer schon parallel zu dem anderen existiert hatte und der seither nur die meiste Zeit unter einer rauen Oberfläche verborgen gelegen und darauf gewartet hatte, entdeckt zu werden. Einer, den sie als fürsorglichen Arzt schätzen gelernt hatte und den sie unwillkürlich bewunderte. Ein Mann, nach dessen Berührung sie sich sehnte.
Aber konnte das sein? War sie vorher ihm gegenüber bloß blind gewesen oder sah sie ihn jetzt durch ihre Verliebtheit zu idealistisch? Sie schüttelte unwillig den Kopf. Man musste Menschen die Chance geben, sich zu verändern. Es war nicht fair, andere in Schubladen zu stecken. Sie war in diesem Moment auf alle Fälle mehr als bereit, ihre diesbezügliche Einstellung neu zu überdenken. Daniel war keiner, der Wetten auf eine Frau abschloss und sie mit Gewalt in sein Bett zu zerren versuchte. Das hatte er mit Sicherheit nicht nötig.
„An was denkst du gerade?“, fragte ihr Begleiter und schaute sie ein wenig misstrauisch an.
Sie erschrak. Hoffentlich war an ihrem Gesicht nicht zu viel von ihren Gedankengängen abzulesen gewesen. Sie würde ihm natürlich irgendwann von ihren Erfahrungen mit Jörg erzählen, aber nicht jetzt. Jeder Gedanke an ihren Exfreund machte bloß die Stimmung kaputt. So sagte sie nur: „Nichts Besonderes.“ Anschließend verscheuchte sie energisch alle weiteren Überlegungen und rückte zur Bestätigung dichter an ihn heran.
Er legte als Antwort einen Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. „Bist du glücklich?“
„Ja sehr“, bestätigte sie eifrig.
Als sie bei der Waldhütte ankamen, drängte die Erinnerung an die besagte Sturmnacht wieder in ihr hoch. Wenn ihr damals jemand prophezeit hätte, dass sie zwei Monate später mit Daniel befreundet sein würde, wäre es ihr bestenfalls als geschmackloser Scherz erschienen.
Auch er befasste sich offensichtlich mit schwerwiegenden Gedanken, denn er brauchte ganz gegen seine Gewohnheit gleich mehrere Anläufe bis er endlich ansetzte: „Ich habe dich heute Mittag nicht ohne Absicht gefragt, ob wir ausgerechnet hierher gehen können. Ich möchte dir nämlich etwas gestehen.“
Paula dachte komischerweise an Petra Maier. Warum wusste sie selbst nicht genau. Vielleicht weil ihr diese Sache einfach nicht mehr aus dem Kopf ging. Ob ihr Daniel jetzt seine tragische Lovestory mit der damals siebzehnjährigen Industriellentochter beichten wollte? Genau an der Stelle, an der das Unglück vor zehn Jahren geschehen war?
„Setz dich!“ Er klopfte einladend neben sich auf die morsche Holzstufe vor der Hütte, auf der er gerade selbst Platz genommen hatte. „Ich möchte dir nämlich eine ziemlich ungewöhnliche Liebesgeschichte erzählen. Sie handelt von einem jungen Arzt und einer kleinen, dunkelhaarigen Dorflehrerin.“
Paula wurde automatisch warm ums Herz. Petra Maier verschwand in den Tiefen des Waldes. Warum sollte sie Hirngespinsten nachhängen, wenn neben ihr das Leben verheißungsvoll pulsierte.
„Du wirst es kaum glauben“, begann ihr Freund. „Aber hier oben habe ich begriffen, dass ich dich mag. Doch bis es dazu kam, brauchte es ziemlich lange.“
Das konnte sie gut nachvollziehen. Bei ihr hatte es auch lange gedauert, bis sie sich ihre Gefühle einzugestehen wagte.
Sein Blick wanderte in die Ferne zu den Bergen, fast als sähe er dort einen Film ablaufen. „Als ich dich zum ersten Mal traf, dort oben auf dem Pass, dachte ich bloß: Du liebe Zeit, schon wieder eine dieser spröden Emanzen.“
Er unterbrach seinen Redefluss und schaute seine Nebensitzerin von der Seite an. „Wie schon gesagt, es ist eine lange Geschichte. Möchtest du sie wirklich hören?“
„Jedes einzelne Wort.“ Sie wusste nichts auf der ganzen Welt, was sie lieber wollte. In ihrem Leben hatte es bisher kaum Liebeserklärungen gegeben.
„Also gut, aber beschwer dich hinterher nicht, wenn ich dich langweile.“ Er stupste sie neckend in die Seite. „Richtig schlimm wurde es nämlich, als ich merkte, dass mein Vater mich ernsthaft mit dir verkuppeln wollte. Am liebsten hätte ich daraufhin Lämmerbach seinem Schicksal überlassen. Doch dann war da die Drogen-Geschichte mit deinem Bruder. Du wirktest einerseits hilflos und andererseits unheimlich tapfer. Das hat mich völlig irritiert und mein Bild von dir etwas ins Wanken gebracht. Ich spürte zumindest, dass ich hier gebraucht werde, ob ich es wollte oder nicht.“ Er machte wieder eine Pause und Paula überlegte, welche ihrer vielen unangenehmen Begegnungen denn nun an die Reihe käme, denn vom Happy End waren sie noch meilenweit entfernt, das war sonnenklar. Er ließ sie nicht lange im Zweifel darüber.
„Und dann kam deine Freundin Julia und dieser blödsinnige Schlittenwettbewerb. Ich weiß auch nicht, was mich an diesem Tag geritten hat, aber ich war sauer und du kamst mir dabei in die Quere. Es tut mir leid, dass du den Ärger aushalten musstest, den eigentlich die anderen verdient hatten. Ich verspreche dir, dass nichts von dem, was ich über dich gesagt habe, so gemeint war. Im Gegenteil, du hast mir mit deinem Mut sogar imponiert.“
Für Paula heilte damit im Nachhinein eine Wunde, die sie viele Monate lang mit sich herumgeschleppt hatte. „Danke“ sagte sie deshalb schlicht. Daniel schaute sie verwundert an, fuhr aber ohne eine Rückfrage fort. „Als du mich nach meinem missglückten Entschuldigungsversuch an diesem Abend mitten auf der Straße stehen hast lassen, war ich zuerst völlig verdattert. So etwas war mir noch nie zuvor im Leben passiert. Nachdem ich mich allerdings etwas von meinem Schock erholt hatte, wurde ich wütend. Ich redete mir ein, du wärst arrogant und besserwisserisch. Das gab mir die Berechtigung, mich dir gegenüber wie ein Arschloch aufzuführen. Außerdem konnte ich damit Anne ärgern.
Der Tod meines Vaters hat mich dann vollends von der Rolle gebracht. Irgendwie hatte ich bei allen vorhandenen Vorzeichen nicht damit gerechnet, dass er sterben könnte. Ich stand somit vor echten Schwierigkeiten. Ich hätte am liebsten Lämmerbach und all seine Probleme für immer hinter mir gelassen, aber ich konnte es nicht. Egal wo ich auch war, ein Teil meines Ichs kam einfach nicht von hier los, so sehr ich mich auch dagegen wehrte. Und was noch schlimmer war, die meisten Frauen in meinem Bekanntenkreis ödeten mich inzwischen an. Frauen, die ich vor kurzem noch aufregend und attraktiv gefunden hatte, waren mir plötzlich völlig gleichgültig. Ich machte mir ernsthafte Sorgen um meinen Zustand.“
Diese Stelle in seinem Bericht mochte sie besonders. Hieß das etwa, dass er schon seit einiger Zeit keine intime Freundin mehr gehabt hatte? Das klang fast zu schön, um wahr zu sein.
Es gab nun erneut eine kurze Pause, die Daniel dazu nutzte, seine Begleiterin ausgiebig zu betrachten. Was sah er dabei in ihr? Etwas, von dem sie selbst vielleicht gar keine Ahnung hatte? Sie hoffte zumindest, dass er mehr als eine unscheinbare, junge Frau entdeckte, die sich nach Zärtlichkeit und Verständnis sehnte.
„Zu diesem Zeitpunkt war ich übrigens fest davon überzeugt, dass du mich hasst oder zumindest verachtest.“
Paula erschrak. Wie kam er denn darauf? Hatte sie etwa so auf ihn gewirkt? Das war ja schrecklich. „Ich habe dich niemals gehasst. Ich war nur die meiste Zeit unsicher, wie ich