Man erwäge, wie haltlos unter diesen Umständen eine von allen Seiten bedrängte Nation sein mußte, die keine Bourgeoisie besaß, und die als Führer im Kampf um ihre Selbständigkeit blos einige Ideologen und einen Theil des Kleinbürgerthums einer national gespaltenen Stadt (Prag) aufweisen konnte. Neben ihrer geographischen Lage und ihrer geringen Volkszahl war es diese Klassentheilung, die der tschechischen Nation jede Aussicht auf Fortbestand raubte. Sie schien rettungslos verloren, sobald Deutschland (mit Deutschösterreich) ein moderner Staat wurde. So wurde die tschechische nationale Bewegung naturgemäß dahin gedrängt, die Reaktion zu unterstützen, so entstand der tiefe Gegensatz zwischen der tschechischen Nation und der deutschen Revolution, der jeden Revolutionär Deutschlands, wie international er auch gesinnt sein mochte, zum Gegner dieser Nation machen mußte. Das galt aber nur so lange, als die Bourgeoisie eine revolutionäre Klasse war, deren Sonderinteressen den Gesammtinteressen der Gesellschaft am nächsten kamen, und die allein unter den oppositionellen Klassen ein größeres Maß politischer Reife besaß.
Aus einer oppositionellen Klasse ist die Bourgeoisie eine herrschende Klasse geworden; aus einer revolutionären eine konservative. Ihre Interessen entfernen sich immer mehr von denen der Gesellschaft; die ökonomische und politische Entwicklung drängt auf ihren Umsturz hin und ihr Niedergang hat bereits begonnen. Auf der einen Seite wächst das Proletariat an Zahl, Macht, Einsicht und Kraft und entreißt der Bourgeoisie eine Position nach der anderen. Auf der anderen Seite finden wir aber auch eine anwachsende Rebellion der Kleinbürger und Bauern gegen die Bourgeoisie. Wohl sind diese Klassen ökonomisch dem Untergange geweiht, aber das führt nicht nothwendigerweise überall zu einer raschen Abnahme ihrer Zahl. In manchen Gebieten werden sie von dem fortschreitenden Kapital verdrängt, in anderen häufen sie sich dafür um so mehr an. Dort vermindert sich nicht ihre Zahl, sie kann wachsen, und damit die Konkurrenz, die sie sich machen, und das Elend, das daraus folgt. Und überall, mag die Zahl der Betriebe der Kleinhandwerker, Kleinhändler, Kleinbauern abnehmen oder nicht, ändert sich der Charakter dieser Betriebe unter dem Einfluß der kapitalistischen Entwicklung. Die Selbständigkeit und Sicherheit, die sie ihren Besitzern boten, hört auf. Aus dem Handwerker wird ein Sweater, ein Flicker, ein Händler mit Fabrikwaare. Der Kleinhändler wird ein Parasit, der aus verkommenden Existenzen seine Nahrung zieht, der von seinen Schulden und denen Anderer lebt, davon, daß es viele Fabrikanten und Großhändler giebt, die, um nur ihre Lager zu räumen, auch dem unsichersten Kunden Kredit geben, und davon, daß es so viele kleine Leute giebt, die unfähig sind, baar zu bezahlen, und daher schlecht und theuer beim Kleinhändler auf Kredit kaufen. Und der Bauer, der von dem Körnerbau nicht mehr leben kann, wird der Sklave einer Zuckerfabrik oder Molkerei, er wird Hausindustrieller, oder sein Betrieb sinkt zur Versorgungsanstalt für die nicht voll arbeitsfähigen Mitglieder seiner Familie herab; die Kinder, Greise und Krüppel betreiben die Wirthschaft, die kräftigen jungen Leute ziehen in die Stadt, und von ihren Spargroschen lebt oft der »Bauer«.
Die Statistik mag mitunter nachweisen, daß die Zahl dieser Kleinbetriebe in Industrie, Handel und Landwirthschaft nicht zurückgeht, aber der Nachweis, daß Kleinbürgerthum und Bauernschaft nicht im Verkommen sind, daß die Unsicherheit, das Elend ihrer Existenz nicht beständig wächst, wird ihr nicht gelingen.
Und zu alledem kommt noch die starke Zunahme der »liberalen Berufe«, die bereits zu einem starken und rasch wachsenden »Proletariat der Intelligenz« geführt hat.
Alle diese Klassen, die 1848 noch sich an die Bourgeoisie anlehnten, zahlreiche Interessen mit ihr gemein hatten, den Aufstieg zu ihr noch relativ leicht fanden, sich selbst also als embryonische Bourgeois fühlten, sie werden in den letzten Jahrzehnten durch eine mehr und mehr sich vertiefende Kluft von ihr getrennt, mit Haß und Empörung gegen sie erfüllt und gedrängt, ihr feindlich gegenüberzutreten. Und ihre Verzweiflung treibt sie immer mehr, ihren letzten Rettungsanker in der Staatsgewalt zu sehen, in der Betheiligung an der staatlichen Politik eine dringende Nothwendigkeit zu erkennen.
Inzwischen ist aber auch die Schulbildung gewachsen und der Verkehr hat sich entwickelt. Jedes Landstädtchen, jedes Dorf steht in regelmäßigem Verkehr mit den Zentren der politischen und ökonomischen Bewegung; der Dorfhandwerker und der Bauer, 1848 noch politisch völlig unwissend und in Friedenszeiten auch gleichgiltig, liest jetzt seine Zeitung. Er hat das Wahlrecht bekommen, er kann mit seinen Genossen in Versammlungen und Vereinen zusammentreten, er hat politische Macht und das Bewußtsein erlangt, daß seine politischen Ansichten für den Staat und dessen Wirthschaftspolitik nicht ohne Einfluß sind.
Alles das bewirkt, trotz des ökonomischen Verkommens des Kleinbürgerthums und Bauernthums, ja gerade in Folge desselben, ein gewaltiges Anschwellen seiner oppositionellen Bewegung im ganzen Lande, aber gleichzeitig auch den Niedergang jener politischen Richtung, die auf dem Zusammengehen des Kleinbürgerthums mit der radikaleren Bourgeoisie beruhte, der bürgerlichen Demokratie. Das führte in den deutschen Ländern zum Aufkommen einer neuen Art Demokratie, die der Bourgeoisie feindlich gegenüber steht und ökonomisch reaktionär auftritt. Der Ultramontanismus, bis dahin der getreueste Verfechter des Feudalabsolutismus, erhält nun zum Theil einen neuen Inhalt, er wird demokratisch, oppositionell, ja er erhebt mitunter sogar den Anspruch, sozialistisch zu sein.
Dem wachsenden Ansturm dieser reaktionären Demokratie, der zusammenfällt mit dem wachsenden Ansturm der revolutionären Sozialdemokratie und vielfach in diesem äußerlich sein Muster findet, ist der Bourgeoisliberalismus nicht gewachsen. Kaum hatten die Revolutionen von 1866 und 1870, welche die dem Jahre 1848 folgende Aera der Revolutionen von oben abschlossen, ihm die Hindernisse aus dem Wege geräumt, die seiner Herrschaft in Deutschland und Oesterreich im Wege standen, da begann auch schon sein Verfall. Nirgends hat der Bourgeoisliberalismus sich so rasch abgenützt, wie in Deutschland und Oesterreich.
Es ist leicht zu verstehen, wie dieselbe Entwicklung, die in den deutschen Ländern den Ultramontanismus und Antisemitismus, kurz, die reaktionäre Demokratie, groß zog und den bürgerlichen Liberalismus zurückdrängte, in jenen Gegenden wirken mußte, in denen Deutsche und Slaven gemischt wohnen und erstere die Bourgeoisie, letztere die unter ihr stehenden Klassen bilden. Das Deutschthum hört auf, die führende und entscheidende Macht zu sein und der Prozeß der fortschreitenden Germanisirung kommt zum Stillstand. Die Klassen, die in den deutschen Ländern sich dem Banne der liberalen Bourgeoisie entwinden, um der reaktionären Demokratie zuzuströmen, werden in den gemischtsprachigen Gegenden zu Trägern der nationalen Bewegung. Diese erfaßt die Landstädte, die Bauern und immer weitere Schichten der »Intelligenz«. Das numerische Wachsthum der »Intelligenz« sowie die Zunahme der Bildung, des Verkehrs und des politischen Interesses in den unteren Klassen schafft der Zeitungsliteratur, dann aber auch der Belletristik eine breitere Grundlage. Diese modernen Erscheinungen haben eine ganze Anzahl kleinerer Nationen literaturfähig gemacht, sie haben eine vlämische und norwegische Literatur ebenso geschaffen, wie eine tschechische. Dieselbe moderne Entwicklung, die in ökonomischer und wissenschaftlicher Beziehung die nationalen Schranken immer mehr niederreißt und den kleineren Nationen den Gebrauch der Weltsprachen aufdrängt, erzeugt neue nationale Literaturen.
Alles das begünstigt die Lebensfähigkeit und Widerstandskraft der tschechischen Nationalität gegenüber der deutschen. Weit entfernt, von dieser noch zurückgedrängt zu werden, beginnt sie vielmehr bereits, ihr neuen Boden abzugewinnen. Namentlich geschieht dies durch das Mittel der inneren Wanderungen. Wie überall in modernen Staaten erzeugt auch in den slavischen Ländern die Bauernschaft einen starken Bevölkerungsüberschuß, den das flache Land nicht ernähren kann, der in die Städte und Industriegegenden zieht, das heißt in unserem Fall, in ehedem ganz oder halbdeutsche Gegenden. Kommt der slavische Proletarier oder Kleinbürger in eine ganz deutsche Stadt, so wird er bald germanisirt. In Wien ist vielleicht mehr als die Hälfte der Bevölkerung slavischen Ursprungs, und doch ist Wien eine deutsche Stadt. Kommt er aber in gemischtsprachige Städte, so verstärkt er dort das slavische Element, und die Stadt wird in dem Maße slavisirt, in dem sie wächst und ihre Industrie sich entwickelt. Marx konnte in vorliegender Schrift Prag noch eine halbdeutsche Stadt nennen. Heute ist sie fast ganz tschechisch; ebenso Pilsen. Und Brünn