Dark World I. Tillmann Wagenhofer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tillmann Wagenhofer
Издательство: Bookwire
Серия: Dark World
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750225602
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Als er zu einer kleinen Scheune kam, die gerade niederbrannte, sah er das winzige Bündel, das direkt neben der Wand lag. Eingehüllt in ein schmutziges, aber mit Blumenmuster verziertes Tuch, lag da ein Kleinkind - und schrie um sein Leben! Langsam ließ sich der Jäger vor dem winzigen Stück Leben auf die Knie sinken und nahm es vorsichtig auf. Das Kleine schrie sofort lauter, schriller. Als Sid den Grund dafür erkannte, wünschte er sich spontan, die Raider noch einmal töten zu können. Langsamer. Eine Platzwunde am Kopf des höchstens ein Monat alten Kindes sprach nämlich eine ebenso deutliche Sprache wie es der Blutfleck an der hölzernen Wand der Scheune tat. Einer der Raider musste das Kleine mit dem Kopf gegen die Wand geschleudert haben! Sid sträubten sich die Nackenhaare. Oder besser - sie hätten es getan, hätte er noch Nackenhaare besessen. Natürlich war ihm bewusst, dass Raider auch Kinder ermordeten - aber er wollte und konnte sich nicht an solche Barbarei gewöhnen. Wie abartig konnten diese Bestien in Menschengestalt sein?

      Red Sid enthüllte das Baby, stellte fest, dass auch das linke Ärmchen des Mädchens - denn ein solches war es - gebrochen war. Das kleine, wehrlose Geschöpf schrie vor Qual, als er - vorsichtig, aber entschlossen - den Arm schiente, dann die Kopfwunde mit ein wenige Wasser säuberte und, nachdem er die Verletzung mit einer Kräutersalbe gegen Giftblut versorgt hatte, mit sauberem Stoff verband. So klein und so schutzlos, dachte er, und in seinem Inneren wurde etwas angerührt, das er lange schon begraben und vergessen hatte. "Keine Angst, Kleines...ich bring' dich in Sicherheit", murmelte er, ein wenig erstaunt über seine eigene Gefühlsduselei. Bis er bemerkte, dass das Mädchen aufgehört hatte, zu schreien. Es blickte ihm jetzt mit großen, blauen Augen ins Gesicht, versuchte wohl zu erahnen, ob es dem fürchterlich aussehenden Mann trauen konnte. Sid sperrte den Mund auf, als das Kleine plötzlich die Mundwinkel nach oben zog. Es lächelte! Der "Gestrafte" hatte schon viel gesehen, doch das konnte er kaum glauben. "Bist ein besonders mutiges, kleines Ding", murmelte er mit Erstaunen. Bis er das Mädchen wieder bewegte und es an seine Schmerzen erinnert wurde - und losschrie. "Ja, ist ja gut, Schreihals", meinte Red Sid seufzend. Die Kleine brüllt noch das halbe Ödland zusammen, dachte er mürrisch, musste dann aber selbst grinsen. Er wartete noch einige Minuten, bis der fressende Ecar mit einigen höchst widerlichen Rülpsern deutlich gemacht hatte, dass er satt war, so dass Sid gefahrlos aufsteigen konnte. Fressende Ecars zu stören war eine der Sieben Todsünden der Ödlande - es sei denn, man fütterte sie direkt. Man lernte es schnell, wenn es einem keiner sagte. Denn die Biester waren nicht wählerisch, was ihr Mittagessen anging, auch wenn sie sich bei einem unklugen Besitzer meist auf eine Hand oder einen Arm beschränkten.

      Die Dämmerung setzte schon ein, als Sid wieder in Richtung Osten ritt, das noch immer schreiende Baby vorsichtig im Arm haltend. Beim Zurückschauen über seine Schulter sah er bereits die ersten Dog-Rats, die sich - noch zurückhaltend und misstrauisch - aber sicher bald ohne jede Scheu den Toten im Dorf näherte. Einen Augenblick sah Sid dem weinenden Mädchen in die Augen. "Tut mir leid…ich hätte deine Leute gerne begraben, aber dann würde ich dich kaum lebend durchbringen. Darfst es mir also nicht übelnehmen, Kleines." Schon bald würden auch größere Bestien der Wastelands aus dem Dunkel der Nacht hervortreten und die kleineren Aasfresser verscheuchen. Aber bis dahin war Sid schon weit weg.

      Wer auch immer dem kleinen Städtchen Last Hope seinen Namen gegeben hatte, Einfallsreichtum war nicht seine Stärke gewesen. Ein gutes halbes Dutzend Orte überall in den Ödlanden trugen genau denselben Namen. Ebenso wie The Hole, The Pitt und ähnliche, vor Vorfreude und Zuversicht schimmernde Bezeichnungen. Immerhin bestand Last Hope aus der Festung des Lords, der Abtei sowie dem Ordenshaus, darum herum schmiegten sich - hinter einem doppelt mannshohen Wall - nicht wenige Häuser, wozu auch eine Gaststätte mit angebautem Bordell gehörte. Letztere beiden pflegte Red Sid nicht gerade selten aufzusuchen, wenn er seinen Sold für den letzten Auftrag erhalten hatte. Der erfreuliche Gedanke lenkte ihn von der Tatsache ab, dass das Baby ihm letzte Nacht auf unerfreuliche Weise klar gemacht hatte, dass es…einem menschlichen Bedürfnis nachkommen wollte. Dass die Pisse, die er ohne Wasser nur schwerlich von seiner Kleidung bekam, inzwischen getrocknet war, hob seine Laune nicht übermäßig. Auch, wenn das Kleinkind inzwischen seelenruhig auf seinem Arm schlummerte, den Bewegungen des Ecars unter ihm und den Verletzungen zum Trotz. "Zähes kleines Ding", murmelte Sid, schüttelte leicht den Kopf.

      Der "Gestrafte" ritt bei Morgendämmerung in die Stadt ein, vor der gerade einige Handelskarawanen lagerten. Last Hope besaß das Marktrecht seit fast zwanzig Jahren, welches die Kirche des Feuers in Übereinstimmung mit den Mächtigen der jeweiligen Territorien erteilte. Einige ortsansässige Händler waren dadurch reich geworden, denn durch das Handelsrecht besuchten die Handelszüge der großen Städte im Osten auf ihrem Weg nach Westen nun auch Last Hope und boten Waren an, die es zuvor nur über Umwege und damit weit überteuert gegeben hatte. Die örtliche Wache, gebildet aus Bürgern, war für die Tore zuständig, während die Truppe des Lords nur die eigenen Tore der Festung und die Ordenskrieger nur diejenige des eigens ummauerten Kirchenbereichs schützten. Der "Gestrafte" erkannte einen der beiden Bürgersoldaten, die lustlos vor dem Tor herumlungerten und bestenfalls Augen für einige der hübscheren Sklavinnen hatten, die eine der Karawanen mit sich nach Westen führte. Als sie Sid erkannten, versteinerten ihre Mienen. Der "Gestrafte" unterdrückte ein höhnisches Grinsen. Arschlöcher, dachte er, als der, den er kannte - ein untersetzter, unwirsch aussehender Kerl namens Frank, vor ihn trat. "Halt...was willst du?", fragte der Mann dümmlich. Sid musste sich nun NOCH mehr Mühe geben, nicht zu lachen. "Ich will reich sein, immer ein paar schöne Frauen..., wenn du so fragst", meinte er möglichst unschuldig. Der Bürgersoldat lief rot an. "Schwachsinn...was du willst, habe ich gefragt?" Da beugte sich der "Gestrafte" im Sattel herunter und blickte Frank unheilverkündend in die Augen. "Dass mein Ecar heute noch satt wird…er ist schon richtig sauer, Leute", meinte er leise, mit einem vielsagenden Blick zu dem Tier, auf dem er saß. Die beiden Wachen starrten ihn erschrocken an. Denn DAS war nicht lustig! Hungrige Ecars waren nicht nur gefährlich - sie waren mörderisch. "Du hast es nicht gefüttert...?", stammelte Frank, wich zurück, sein Nebenmann ebenso. Red Sid hob die Schultern. "Wenn ihr mich noch eine Minute aufhalten wollt, lasse ich ihn bei euch. Aber dass hinterher keiner jammert, klar?" So gut wie kein normaler Bürger hatte den Hauch einer Ahnung von den Ecar Equis. Denn diese Tiere waren teuer, schon wegen des hohen Fleischbedarfs. Keine Miliz hielt sich berittene Verbände. Dazu kam, dass sie sich für das Ziehen von Kutschen und ähnlichem, auch den Karawanenwagen, nicht eigneten. Aus irgendeinem Grund wurden Ecars, vor einen Karren gespannt, sehr schnell bösartig. Sid hatte dazu die Theorie, dass es an der Art lag, wie die Tiere festgezurrt wurden - es behagte ihnen nicht, quasi gefangen zu sein. Sid ritt, ohne angehalten worden zu sein, durch das Tor der Ordensfestung. Wie die des Fürsten war sie von um die drei Meter hohen Wällen umgeben, darauf gab es Wehrgänge und insgesamt vier Türme, an jedem Eck der Befestigung einen davon. Im Gegensatz zu der eher funktionell und schmucklos angelegten Festung des Fürsten waren die Gebäude der Kirche im Inneren der Anlage weinrot gestrichen: Der Ordenskomplex, neben dem Übungsgelände lagen - eine Bogenschieß- und Speerwurfbahn, Übungsringe für Schwert- und waffenlosen Kampf, drei Turnierbahnen für die Ordensreiter, dann die eigentliche Abtei, daneben die Kirche des Feuers, dann das Waffenlager nebst den Ställen sowie das Versorgungshaus, in dem Vorräte und Bekleidung lagerten.

      Die Ordenstruppen waren der gepanzerte Arm der Kirche des Feuers und vor allem das Durchsetzungsorgan der Inquisition der Flamme. Von klein auf wurden hier Jungen wie Mädchen zu späteren Rittern der Kirche ausgebildet, den gefährlichsten und am meisten gefürchteten Kriegern der bekannten Ödlande.

      Red Sid sah den Orden mit gemischten Gefühlen an. Als Angehöriger einer im Grunde verachteten, aber notwendigerweise benötigten Minderheit hatten ihn schon viele der Kirchenleute, vor allem aber die Köpfe des Ordens, ihre Geringschätzung für seine Person spüren lassen. Mit einigen Veteranen und jenen Ordensführern, die fähig waren, über ihren bescheuerten Standesdünkel hinweg den Mann in ihm zu sehen, der unter seinem Äußeren genug gelitten hatte, kam er indes gut klar. Ordens-Sergeant Anderson gehört NICHT zu den letzteren, hatte indes auch keine besondere Abneigung für den "Gestraften" parat. Was sich aber rasch änderte, als Red Sid mit dem Baby unter dem Arm eintrat. Schon die beiden Ordens-Hauptmänner am Tor hatten ihn, vor allem aber sein krähendes Bündel im Arm, entgegen ihrer sonst sehr gefassten Art angeglotzt, als wären ihm Flügel gewachsen oder so etwas. Dann hatten die Idioten gegrinst und höchst dämliche