»Wer kann das bloß …?«, flüsterte Anna Eichhorn, doch Serafina Moor brachte sie mit einem schnellen Wink zum Schweigen. Sie warteten einen Moment. Dann klingelte es erneut. Melzick war wieder einmal kurz davor, die Geduld zu verlieren. Sie drückte energisch ein drittes Mal und außerdem deutlich länger auf den Messingknopf unter dem reich verzierten, quadratischen Messingschild, auf dem in schwungvoller Schrift der Name der alten Villa prangte. Serafina Moor warf einen strengen Blick auf Anna Eichhorn.
»Ich kann mir schon denken, wer das ist. Diese Impertinenz!« Sie schnaubte mit wohldosierter Verachtung durch die Nase. Dann erhob sie sich. »Du weißt was wir besprochen haben. Die Zeit …« Sie hielt es für überflüssig, den Satz zu beenden und hob stattdessen vielsagend ihre rechte Augenbraue. Anna Eichhorn erwiderte den Blick mit einem nervösen Zwinkern. Dann ging Serafina Moor, um Melzick selbst die Tür zu öffnen. Für irgendwelches Personal hatte sie keinen Nerv, noch nie gehabt. Melzick bemerkte einen Schatten hinter dem schmalen Streifen aus farbigem Bleiglas, der rechts von der pompösen Mahagonitür bis zum dunklen Granitboden reichte. »Halleluja«, dachte sie und atmete tief durch. Die Tür ging auf und Serafina Moor stand vor ihr, einen schwarzen Haarreif in der graublonden Mähne, die Herablassung in Person.
»Oh!«, mehr sagte die Moor nicht zur Begrüßung.
»Guten Tag. Ist Frau Eichhorn hier?« Serafina Moor nahm sich die Zeit, verschränkte ihre Arme und warf einen langen Blick auf die zu einem kleinen Turm verschlungenen hennaroten Dreadlocks auf Melzicks Kopf.
»Sagen Sie, muss man das eigentlich regelmäßig gießen, oder wie behält das die Form?« Melzick vereiste augenblicklich.
»Das ist reine Körperbeherrschung. Mehr braucht es nicht«, antwortete sie betont langsam, als würde sie einer senilen Seniorin den Weg erklären. Die Fronten waren also geklärt. Serafina Moor machte einen Schritt zur Seite und Melzick trat ein. Ein irritierend starker Lavendelduft beherrschte die dunkle Eingangshalle.
»Geradeaus durch, wenn ich bitten darf!« Melzick folgte ihr durch einen schmalen Flur, der zu einem großzügig geschnittenen, hellen Raum führte. Eine bestimmt vier Meter hohe Decke mit zarten, verblassten Fresken, lediglich zwei ausladende Ohrensessel, cremeweiß bezogen, auf dem edel in der Farbe alten Cognacs schimmernden Parkett, ein einziger flacher Couchtisch im Kolonialstil von sehr dunklem Braun zwischen ihnen, zart gelbe, duftige Volants an den weit geöffneten Terrassentüren, die Wände in honigfarbenem Holz getäfelt, keine Bücher, keine Bilder, keinerlei Nippes. Melzick konnte nur mit Mühe bewundernde Blicke vermeiden. »Der Salon also«, dachte sie grimmig. Serafina Moor war, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, vorausgegangen und hatte sich an einen riesigen ovalen Rattantisch gesetzt, auf dessen Glasplatte ein halbes Dutzend dicker Fotoalben verteilt waren. Dazwischen standen zwei Kaffeetassen, eine silberne Kanne, die antik aussah und ein geflochtener Korb, in dem ein angebissenes Croissant lag. Als Anna Eichhorn Melzick erblickte, griff sie gleich danach. Melzick übersah dies, sie wollte keine Zeit verlieren.
»Schön, dass ich Sie hier treffe, Frau Eichhorn, ich habe noch …«
»Leider können wir Ihnen nichts anbieten«, unterbrach sie die alte Dame und biss mit Wonne in das Croissant.
»Das macht nichts. Ich habe noch ein paar Fragen an …«
»Oder haben wir noch etwas Kaffee drinnen?«, fragte Anna Eichhorn ihre Freundin. Serafina Moor hob mit einem sehr schmalen Lächeln die Schultern und schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht zum Frühstücken hergekommen!«, entfuhr es Melzick in einem forschen Ton.
»Ach«, sagte Anna Eichhorn, »und worum geht es bitte?« Melzick atmete zum zweiten Mal tief durch.
»Sie haben heute Morgen von einem merkwürdigen Geräusch berichtet.«
»Hab ich das?«
»Ja und ich möchte wissen, wann genau Sie es gehört haben.« Anna Eichhorn starrte sie gedankenverloren an. Serafina Moor lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte erneut die Arme.
»Wann ich es gehört habe«, wiederholte Anna Eichhorn zögerlich. »Hab’ ich das nicht heute Morgen schon gesagt?« Melzick seufzte im Stillen.
»Ja das haben Sie. Aber es gibt da einen gewissen Widerspruch in Ihrer Aussage.«
»So, gibt es den?« Anna Eichhorn reckte ihr kurzes Kinn in die Höhe. »Normalerweise geht die Sonne auf und ich bereite mich auf meinen Morgenspaziergang vor. Das ist so meine Gewohnheit um diese Jahreszeit. Bei mir geht alles etwas langsamer daher brauche ich dafür etwa eine Dreiviertelstunde.«
»Demnach wären Sie etwa um sechs Uhr losgelaufen.«
»Wenn Sie das sagen. Kann wohl sein.« Sie machte eine kurze Pause. »Und da hab’ ich das Gebläse, oder was es auch war, gehört. Ich war gerade um die Ecke gebogen. Ich wohne ja ganz in der Nähe vom Kurpark.«
»Heute Morgen sagten Sie, Sie hätten es gehört kurz bevor Sie die beiden Männer fanden, was ungefähr um 6 Uhr 50 gewesen sein dürfte.«
»Ach was, das kann nicht sein. Nein, nein, das war viel früher.«
»Sind Sie sicher?«
»Aber ja.«
»So sicher wie heute Morgen?«
»Natürlich, was denken Sie? Das heißt …, also eigentlich …« Sie brach ab. Melzick heftete ihren Blick auf sie. Die alte Dame machte einen ganz anderen Eindruck als noch am Morgen im Kurpark. Sie griff etwas verlegen in ihren gelben Schal. »Ich meine, was kann ich denn …?«
»Schon gut, Frau Eichhorn, ich werde mir das genauso notieren.« Melzick holte ihr kleines blaues Notizbuch aus ihrer hinteren Hosentasche. Während sie mit einem Bleistiftstummel etwas hinein kritzelte, fiel ihr noch etwas ein.
»Was haben sie eigentlich gemacht, als sie die beiden Männer fanden?« Anna Eichhorn räusperte sich leise.
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja – sind Sie erschrocken? Haben Sie geschrien? Konnten Sie sich nicht vom Fleck rühren? Oder sind Sie vielleicht näher rangegangen? Vielleicht ganz nahe? Haben Sie die beiden berührt? Lag außer den beiden sonst noch etwas auf dem Boden? Etwas, das Sie aufgehoben haben?« Melzick hielt inne. Sie hatte sich wieder einmal hinreißen lassen. So fragte man nicht. Sie wusste es, sie hatte es gelernt und oft genug geübt. Aber diese dämlichen Rollenspiele auf der Polizeiakademie hatten mit dem wirklichen Leben absolut nichts zu tun. Sie schaute von ihrem Notizbuch auf. Anna Eichhorn war tatsächlich blass geworden. Ein Croissantkrümel hing in ihrem Mundwinkel. Sie schien unfähig, zu antworten. Das übernahm Serafina Moor, die mit einem Ruck aufstand.
»Das reicht Frau …«
»Zick.«
»Frau Zick! Meine Freundin Anna hat es nicht nötig, etwas vom Boden aufzuheben, das ihr nicht gehört! Wissen Sie noch, wie Sie hereingekommen sind?« Melzick schaute sie wortlos an. »Dann finden Sie auch wieder hinaus!« Anna Eichhorn saß zusammengesunken mit leerem Blick in ihrem Sessel. Serafina Moor hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt und fixierte die junge Frau. Melzick steckte ihr Notizbuch wieder ein. Sie schluckte ein paar Mal, um etwas Zeit zu gewinnen. Dann kehrte sie den Rest Höflichkeit, den sie finden konnte, zusammen.
»Vielen Dank für Ihre Kooperationsbereitschaft. Wir werden sicher noch einmal darauf zurückkommen.« Damit drehte sie sich um, durchquerte den Salon und verließ das Haus wie sie gekommen war. Die Tür ließ sie etwas lauter als nötig ins Schloss fallen. Tief durchatmen – zum dritten Mal. Einer plötzlichen Eingebung folgend wandte sie sich suchend nach beiden Seiten. Rechts und links des mächtigen Baus aus roten Ziegelsteinen erstreckten sich dichte Hecken, jedoch kein Zaun aus Holz oder Metall. Melzick spähte die Straße in beide Richtungen entlang. Niemand war zu sehen. Sie probierte es mit der rechten Seite und untersuchte die grüne, nach Kräutern duftende Barriere. »Bingo«, murmelte sie nach ein paar Metern. Sie hatte eine schmale Lücke entdeckt und zwängte sich an vertrockneten Ästen und Zweigen vorbei. Ein tiefer Kratzer unter ihrem linken Auge sollte sie noch