True Anonymous, 2019
10.09.2014
Ich dachte, ich hätte ihn umgebracht.
Kim lag regungslos auf dem schmalen Bett in meinem Bunker. An seinem linken Mundwinkel war Speichel zu sehen. Ich ekelte mich und schämte mich gleich darauf. Einen Menschen umzubringen und sich dann vor ihm zu ekeln, war respektlos. Der Elektroschocker glitt aus meiner Hand.
Was würde ich tun, wenn Kim jetzt wirklich tot wäre? Ich müsste ihn verschwinden lassen. Wie aber sollte ich seinen leblosen, massigen Körper aus meinem Bunker schaffen? Vermutlich nicht in einem Stück. Mir wurde übel.
Und es konnte sogar noch schlimmer kommen, dachte ich. Ich sah schon mehrere schwarze SUVs vor meinem Haus halten. Ein paar maskierte Gestalten sprangen heraus, die dann die äußere Bunkertür sprengten, in den Raum stürmten und mich sofort erschossen. Was wäre das Letzte, das ich sehen würde? Ein vermummtes Gesicht? Mündungsfeuer? Ein lachender Kim?
Ich beruhigte mich. Du bist sehr gut vorbereitet, sprach ich mir tapfer zu. Selbst die Sache mit den RFID-Chips hast du exzessiv recherchiert. Du kannst dir ziemlich sicher sein, dass implantierte Chips mangels eigener Stromversorgung nur im Nahbereich funktionieren. Das meiste, was man über ihre angeblichen Fähigkeiten und Eigenschaften liest, ist reine Panikmache: Kim trägt kein RFID-Chip-Implantat. Sie werden ihn nicht finden. Du bist sicher, das Projekt ist sicher. Und: Kim ist nicht tot!
Hatte er sich gerade bewegt? Es war ein kurzer Ruck durch seinen Oberkörper gegangen, den ich aus dem Augenwinkel bemerkt hatte, während ich zur Tür spähte, in Erwartung der todbringenden nordkoreanischen Geheimdienstkiller. Kims Brustkorb hob und senkte sich jetzt kontinuierlich.
In Deutschland zugelassene Elektroschocker waren schwach und verursachten höchstens ein Kitzeln, sie waren für meine Zwecke also völlig ungeeignet. Deshalb hatte ich zu einem illegalen Import aus Japan greifen und eine eventuelle Todesfolge einkalkulieren müssen. Kim hatte soeben einen repräsentativen Test bestanden: Ich war enorm erleichtert! Es war sehr wichtig für meine Aufgabenbereiche, über einen hoch effizienten Elektroschocker zu verfügen, der keinesfalls letal wirkte.
Hatte er sich geräuspert? Es klang so. Seine Augen waren geöffnet. Er sah mich mit einem Ausdruck an, als wäre er genervt. Fast war ich beleidigt: Ich hatte diesen prominenten Diktator gerade in einer sensationell unauffälligen Aktion aus seinem bisherigen Leben gerissen. Nichts würde sein wie zuvor – und er sah mich an, als hätte ich mir einen Schülerstreich erlaubt?
Ich wollte ihn ansprechen, ließ es dann aber sein. Mein Mund stand offen, sicher sah es idiotisch aus. Ich schloss ihn bemüht würdevoll und schwieg. Kim blickte jetzt ins Leere. Ich dachte daran, was diese Augen alles gesehen haben mussten: Raketentests, Hinrichtungen, Militärparaden, Dennis Rodman. Auf Bildern war er meistens gut gelaunt.
Seit er hier im Bunker war, hatten wir noch kein einziges Wort gesprochen, wie mir auffiel. Nun gut, ich wollte ihn nicht drängen. Wir hatten ja Zeit. Der Bunker liegt unter einem Carport. Das dunkle Geheimnis dieser biederen Idylle ließ mich bereits mehrmals schmunzeln.
Kim ist gut gesichert. An seinem linken Handgelenk befindet sich die eine Hälfte einer Handschelle. Von ihr führt ein mit flexiblem Kunststoff ummanteltes Stahlseil zu einer Halterung an der Wand. Kim hat exakt den Bewegungsradius, den er benötigt, um Toilette und Dusche zu benutzen. Gleichzeitig ist er stets weit genug von Eingang und Küchenzeile entfernt, die ich als Gefährdungsbereiche eingestuft habe. Ich bin ein bisschen stolz auf diese Leistung, da ich eigentlich kein handwerklicher Typ bin. Nach Recherchen im Internet hatte ich das Material besorgt, gründlich berechnet, welche Kräfte es aushalten musste und schließlich alles selbst montiert. Das Stahlseil schränkt Kim nur minimal ein: Wenn er ein T-Shirt oder einen Pulli anzieht, schlängelt es sich durch den linken Ärmel sowie an der linken Seite seines Oberkörpers vorbei, bis es unten am Saum das Kleidungsstück wieder verlässt. Ich habe das alles vorher ausprobiert, es funktioniert tadellos. Kim zu gestatten, das Stahlseil abzunehmen, wäre hingegen einfach zu riskant.
Ich lehnte mich zurück und spürte das schwere Metall des Ruger Redhawk von 1986 im Kaliber .357 mit 5,5 Zoll Lauflänge auf der linken Seite meiner Brust. Eine seltene Waffe, die genau meinen Geschmack trifft. Sie saß fest im Holster, das von meinem Sakko überdeckt wurde. Ich trug heute eine beigefarbene Chino, weiße Sneaker, das besagte Sakko (marineblau), ein weißes Hemd und eine Sonnenbrille und sah wie jemand aus, dessen Lebensziel es war, eine Yacht zu besitzen. Als ich Kim heute Nachmittag im Freibad traf, hatte ich zusätzlich zu einer Perücke noch ein dunkelblaues Basecap (ohne Emblem oder Beschriftung) auf dem Kopf.
Ich werde meinen Stil für die Gespräche mit Kim geringfügig modifizieren. Ein Sakko werde ich nicht mehr tragen, sondern nur ein weißes Hemd. Das Holster mit der Waffe wird also immer gut sichtbar sein. Außerdem werde ich auf das Basecap verzichten und ausschließlich Perücke, Sonnenbrille und falschen Schnauzer tragen. Ich werde Good Cop und Bad Cop in einer Person sein, wie in einer amerikanischen Krimi-Serie der Siebzigerjahre. Wo wir gerade bei Äußerlichkeiten sind: Kim trug Badeshorts, Flip-Flops und ein Hawaiihemd. Es ist ein ungewöhnlich warmer Spätsommer.
Mitten in der Nacht sitze ich nun an meinem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Ich muss immer wieder aus dem Fenster sehen, während ich Ihnen das hier schreibe. Allerdings blicke ich jedes Mal nur in mein erschrockenes Gesicht, das sich zusammen mit der Schreibtischlampe in der Scheibe spiegelt. Bei Tage sehe ich Zweige eines Baumes, eine Straße, die direkt an meinem Haus entlangläuft sowie endlos weite Felder. Mein Haus steht einsam in der Landschaft. Sollte sich jemand nähern, kann ich ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit schon frühzeitig erkennen – wenn es nicht gerade dunkel ist.
Ich muss feststellen, dass mich die nächtliche Blindheit etwas unsicher macht. Um den Anblick meines erschrockenen Gesichts zu vermeiden, könnte ich die Fensterläden schließen – was ich gemacht habe, bevor Kim mein Gast war – oder den Raum wechseln. Aber nein, das kommt nicht in Frage. Lieber sehe ich wenig als gar nichts. Und in einem anderen Raum weiterzuschreiben, geht auch nicht. Dafür bin ich zu sehr Gewohnheitstier – es ist das erste Mal, dass ich dieses Wort benutze: Gewohnheitstier. Ich kann nur hier, in meinem Arbeitszimmer, arbeiten. Die Stille drückt. Sie ist massiv wie ein Granitblock, der mich zerquetschen will.
Ich werde im Wohnzimmer Musik anmachen und laut genug stellen, damit ich sie auch hier höre. Erledigt. Ich habe Diamond Dogs von David Bowie gewählt. Nur wenige Menschen können David Bowie wirklich verstehen. Ich zähle dazu, weil Bowie und ich etwas ganz Wesentliches gemeinsam haben. Das erkläre ich Ihnen später noch. Übrigens höre ich fast ausschließlich Schallplatten: Falls Sie sich fragen sollten, warum ich Musik in einem anderen Raum anmache und nicht einfach über den Rechner streame.
Es ist übrigens ein Wunder, dass Sie das hier lesen können. Ich habe dieses Blog so gut im Internet versteckt, dass es fast nicht zu finden ist. Vielleicht wird es auch nie gefunden werden und ich schreibe gerade einer vollkommen imaginären Person. Streng genommen habe ich versagt, wenn Sie dieses Blog gefunden haben. Ich hoffe also sehr, dass es Sie nicht gibt.
Wenn Sie jedoch wirklich existieren sollten, dann müssen Sie ein ganz besonderer Mensch sein, und ich würde es sehr bedauern, Sie nicht zu kennen. Aber wer weiß: Vielleicht treffen wir uns ja eines Tages.
Warum ich überhaupt ein Blog im Internet verstecke, um darin ein Tagebuch zu führen, fragen Sie sich? Na ja, mich hat einfach die Idee gereizt, in der Öffentlichkeit quasi unsichtbar zu sein. Jeder könnte das lesen, gleichzeitig ist es extrem unwahrscheinlich. Die Wahrheit – unentdeckt in einem Netz aus Lügen. Der kleine Kitzel, entdeckt zu werden.
… Come out of the garden, baby / You’ll catch your death in the fog …
Ich will Ihnen noch schnell erzählen, wie mein erster Tag mit Kim weiter verlief.
Kim hatte sich aufgerichtet. Es war ein langsamer, mühevoll wirkender Prozess.