Nach ungefähr einer Stunde des Herumlaufens und Erkundens gehe ich gezwungenermaßen wieder zurück in das Zimmer des Schreckens, denn es fängt schon an zu dämmern. Vor der Tür atme ich nochmal tief ein und aus, um nicht sofort den nächsten Herzinfarkt zu bekommen, wenn ich gleich diesen Raum betrete.
Doch es kommt komplett anders.
Margae... wie auch immer, liegt in ganz normalen Klamotten, ganz normal auf ihrem Bett, mit ganz normaler Bettwäsche und tippt etwas auf ihrem ganz normalen Handy.
Alle Poster von Boybands sind von den Wänden verschwunden und erst jetzt kann man sehen, dass die Wände in einem schönen Hellblau gehalten sind. Das habe ich definitiv nicht erwartet. Ich stehe immer noch ungläubig im Türrahmen und halte den Türknauf in der Hand. Hat sie jetzt eine Hundertachtziggradveränderung gemacht? Haben die Boybandaliens ihr wieder ihr Hirn zurückgegeben?
"Ravely, du bist wieder da", sagt sie. Sie sagt es ganz ... normal. Sogar ihre Stimme hat sich verändert, sie ist nicht mehr so hoch wie vorher.
"Ja, anscheinend bin ich das." Ich bin total baff. "Was zur Hölle ist hier los?"
Sie lacht einmal kurz auf und meint: "Setz dich, ich werde es dir erklären."
Ich gehorche und setze mich. Ich setze eine leicht böse Miene auf, immerhin fühle ich mich gerade komplett verarscht. Neugierig ziehe ich eine Braue hoch und verschränke die Arme.
"Also pass auf, das alles, was sich hier vorhin noch abgespielt hat, war nichts anderes als reiner Wissensdurst. Jedes Mal, wenn ich neue Leute kennenlerne, versuche ich sie auf törichste Art und Weise hereinzulegen, um herauszufinden, wie sie reagieren."
Ich betrachte sie skeptisch.
"Ich schreibe Bücher, weißt du? Und für mich ist es extrem wichtig, viele verschiedene Situationen in meinem Leben schon mal durchlebt zu haben. Seien sie auch noch so peinlich. So kann ich besser die Gefühle von meinem Gegenüber, wie auch von mir, verstehen und in meinen Geschichten wiederverwenden. Und dass ich eine neue Mitbewohnerin bekommen, war einfach die perfekte Chance für mich. Ich hoffe, du bist mir nicht böse." Mittlerweile bekommt sie einen entschuldigenden Unterton, denn sie scheint zu merken, dass das wirklich verrückt klingt. Und das tut es auch.
Wow, ich bin sprachlos. Ich fühle mich hintergangen und gleichzeitig bin ich extrem erleichtert, dass sie doch nicht so verrückt ist, wie ich dachte. Mir fällt eine Last von den Schultern, die ich in den letzten Stunden tragen musste. Die Blase vom Traumzimmer auf meinem Traumcollege besteht wieder.
Ich lache laut… vor lauter Erleichterung lache ich einfach laut los. Ich wische mir eine Träne aus den Augen und frage, nachdem ich mich beruhigt habe. "Margae..., wie auch immer, ist aber nicht dein richtiger Name, oder?"
"Nein, natürlich nicht. Ich heiße Abigail, aber nenn mich bitte Aby. Bin 19 Jahre alt, studiere englische Literatur, hasse Katzen und steh total auf den Lehrer aus dem Mathekurs." Sie ist auf jeden Fall netter als ich dachte. Ich denke, dass man mit ihr viel Spaß haben kann.
"Ich bin Ravely, 18 Jahre alt, studiere ebenfalls englische Literatur, hasse Boybands und bin durch und durch Single."
Kapitel 2
Am nächsten Morgen steht der erste Unterricht an. Ich bin extrem aufgeregt, was mich in den Kursen so erwartet. Mein erster Kurs ist direkt Literatur, zum Glück. Mit Mathe will ich den Tag nicht starten.
Als ich den Raum betrete, sehe ich schon vierzig Personen im Hörsaal sitzen. Dass es so viele junge Erwachsene gibt, die sich für Literatur interessieren, hätte ich nicht gedacht. Vorsichtshalber setze ich mich in die letzte Reihe, denn ich möchte nicht unbedingt von jemandem angesprochen werden, der mich ablenken könnte. Dafür ist mir dieser Kurs zu wichtig.
"So, liebe Schüler und Schülerinnen, nehmt bitte Platz", ruft der Professor durch den Raum. Kurz darauf wird es auch schon still. "Mein Name ist Professor Snow und ich bin froh, einige neue Interessenten in meinem Kurs begrüßen zu dürfen und hoffe auf viele neue Charaktere. Wie ihr wahrscheinlich bereits wisst, handelt es sich hier in diesem Kurs um die englische Literatur, deshalb bitte ich euch immer euren Laptop oder einen Block dabei zu haben. Ein Block sollte absolut ausreichen, da ihr den Großteil eurer Geschichten auf euren Zimmern, oder wo auch immer ihr am liebsten schreibt, schreiben werdet. Dazu kommt –‘‘ Der Professor wird von dem Knall der Eingangstür unterbrochen.
Ein Schüler betritt den Raum und alle starren ihn an. Genervt beobachte ich ihn, wie er in die letzte Reihe geht. Wie kann er es sich erlauben am ersten Tag zu spät zu kommen?
"A, Mister Bender! Sie hielten es wohl auch mal für nötig in den Unterricht zu kommen", ruft Snow zu ihm.
Der benannte Mister Bender setzt sich an das andere Ende der letzten Reihe. Gut so, schön weit weg von mir. „Nach der Sommerpause an einem Montagmorgen pünktlich im Unterricht zu erscheinen ist utopisch, Professor Snow", ruft er lässig nach vorne und bekommt von den allen anderen Schülerinnen Gekicher geschenkt, außer von mir. Ich finde es eigentlich nur unangebracht und außerdem klaut dieser Auftritt mir kostbare Zeit vom Unterricht. Ich mag ihn schon jetzt nicht. Genervt von ihm schnaube ich und sehe wieder zu Mister Snow.
"Wie auch immer. Wo war ich?“, murmelt dieser und schnipst. „Ach so! Dazu kommt, dass ich möchte, dass Sie jeden Tag ihre Gefühle und Erlebnisse aufschreiben, die sie für den Tag geprägt haben. Oder Sie schreiben eine Kurzgeschichte, mit der Sie sich identifizieren können. Ich möchte, dass Sie das alles in ein einziges Buch oder Heft schreiben, nie auf verschiedene Blätter, so verlieren Sie auch nichts. Ich möchte am Ende des Schuljahres diese Hefte einsammeln und eure Fortschritte bewerten."
Ein lautes Stöhnen kommt von den Schülern. Außer natürlich von mir, ich freue mich total darüber, dass so etwas bewertet wird.
Die erste Stunde wurden uns weitere Informationen über das bevorstehende Schuljahr gesagt und ich freue mich jetzt schon wie eine Schneekönigin, endlich damit beginnen zu können. Genau so habe ich mir das College vorgestellt. Nachdem ich den Hörsaal verlassen habe, krame ich meinen Plan vom Campus aus meiner Tasche und versuche den Weg zum Physikkurs zu finden. Ich drehe die Karte ständig herum, um endlich zu kapieren, welcher Weg eigentlich welcher ist. Ich verzweifle jedoch. Mein Orientierungssinn war noch nie besonders ausgeprägt.
"Du hältst die Karte falschherum", höre ich eine bekannte Stimme hinter mehr.
Na, toll. Der hat mir gerade noch gefehlt. Mister Ich-Ziehe-Alle-Aufmerksamkeit-Auf-Mich grinst mich schelmisch an.
Erst jetzt fällt mir auf, wie viel größer er ist als ich. Na ja, das ist wahrscheinlich jeder. Ich, mit meinen einmeterfünfundfünzig überrage kaum jemanden, der nicht gerade zehn Jahre jünger ist als ich. Seine Haare sind gelockt und nach oben gestylt und mit seinen stechend grünen Augen erinnert er mich an den Protagonist meines Lieblingsbuches. Nur, dass dieser Protagonist ein hoffnungsloser Romantiker ist, was ich ihm hier vor mir bestimmt nicht zutrauen kann.
"Oh, danke", sage ich einfach lässig und drehe mich von ihm weg. Ich steure irgendeine Richtung an. Ob es die falsche oder richtige Richtung ist, ist irrelevant, denn ich will erst einmal von ihm weg. Mein Plan scheint jedoch kläglich zu scheitern, denn ich höre schon seine Schritte hinter mir.
Er taucht neben mir auf, nimmt mir die Karte aus der Hand und sieht darauf. "Welchen Kurs hast du denn jetzt?"
Ich beherrsche mich, freundlich zu bleiben und ihm nicht sofort wieder die Karte aus der Hand zu reisen. "Physik."
"O, hab ich jetzt auch. Begleite mich doch einfach." Er lächelt freundlich und hält mir wieder die Karte hin.
Nein, ich will dich nicht begleiten.
Ich seufze und nehme ihm die Karte ab. "Von mir aus."
"Bist du neu hier?", unterbricht er die eigentlich