Antilius war sehr nervös. Die Gedankenkraft zu beherrschen war für ihn neu und schwierig. Aber Tahera leitete ihn gut.
Gilbert sah dem Geschehen aus einiger Entfernung zu. Er sah, wie der Kristall langsamer kreiselte und schließlich zum Stehen kam. Trotzdem schwebte er noch störrisch vor sich hin, und das dunkle Glühen war ungebrochen.
Antilius und Tahera legten schließlich ihre Hände auf den Kristall und gingen zur zweiten Phase über. Der Schließung.
Siegessicher schaute Gilbert noch einmal abfällig zum Spiegel herab, der auf dem Boden lag.
»Nun denn, großer Herrscher. Euer neues Reich ist zwar ein klitzekleines bisschen kleiner als Euer altes aber ihr werdet Euch an die Klaustrophobie da drin schon gewöhnen. Nach ein paar Jahren lernt man sie sogar richtig zu schätzen. Sie wird dann zu einem richtigen Freund. Ich weiß, wovon ich ...«
Gilbert unterbrach seine Predigt der Schadenfreude, denn Koros war nicht mehr da, wo er sein sollte. Der Raum, in dem er zuvor noch auf dem Boden gelegen hatte, war leer. Oder hatte er sich versteckt? Gilbert wusste, dass es nur eine einzige Ecke neben dem Spiegel gab, in der man von der anderen Seite des Spiegels nicht gesehen werden konnte.
Wachsam beugte er sich nach vorn.
Nichts zu sehen.
Er ging auf die Knie und stütze sich mit den Händen am Boden ab. Anfassen wollte er den Gegenstand nicht.
Immer noch nichts zu sehen.
»O je, ich glaube, wir haben ein Problem«, sagte er leise.
»In der Tat, das hast du!«, rief es aus dem Spiegel grimmig. Zeitgleich schoss eine Hand aus der Glasoberfläche hinaus und packte Gilbert am Unterarm. Dieser wollte sich losreißen. Er riss so heftig, bis ihn ein stechender Schmerz in der Schulter aufschreien ließ.
Das Portal war noch nicht verschlossen, sodass der Übergang in das Spiegelgefängnis es ebenfalls nicht war. Koros konnte zwar nicht mehr heraus, aber es konnte immer noch jemand hinein.
»Lass mich los!«, schrie Gilbert voller Angst. Er zog mit aller Kraft, aber die Hand von Koros Cusuar war stärker. Ihr Griff war so fest wie Stahl.
»Antilius hilf mir!«
Sein Meister hörte den ersten Hilfeschrei gar nicht. Zu sehr war er auf den Kristall konzentriert. Er sah in sein Inneres. Er war kurz davor zu sehen, was am anderen Ende war. Am anderen Ende des Universums.
»HILF MIR, ANTILIUS!«
Diesmal drang der Schrei bis zu ihm durch. Verschreckt löste er seinen Blick und sah das Unfassbare. Eine Hand, die aus dem Spiegel ragte, zerrte mit grausamer Brutalität an Gilberts Arm. Er würde dieser Gewalt nicht mehr lange standhalten können. Keiner der anderen von den Largonen oder der Ahnenländler wollte Gilbert zur Hilfe eilen, weil sie sich alle so sehr vor dem Portal des Transzendenten fürchteten und ihm nicht näher kommen wollten. Nur Pais wollte Gilbert helfen, doch er war noch zu schwach, um alleine stehen zu können, und sein Bruder hielt ihn zurück.
»Du musst dich weiter konzentrieren, Antilius! Bleib bei mir, sonst war alles umsonst!«, schrie ihn Tahera an.
Antilius schloss die Augen. Das war nun die Entscheidung, die er würde treffen müssen, so wie es das Orakel ihm prophezeit hatte.
Gedankenfetzen stoben durch sein Gehirn.
Das ist es! Die Entscheidung. Gilbert retten. Oder das Portal schließen.
Bleib bei mir!
Hilf mir!
Unbewusst öffnete Antilius wieder die Augen. Es war, als ob sie ihm jemand geöffnet hätte.
Und dann, für den Bruchteil einer Sekunde, konnte er es im Kristall sehen. So unvorstellbar kurz, dass er sich später nicht mehr daran würde erinnern können. Er sah ihn.
Er blickte dem Dunkelträumer in die Augen. Und er verstand.
Für einen Sekundenbruchteil verstand er alles, was war und was sein wird. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie waren alle gleich. Sie waren eins.
Und dann fällte Antilius seine Entscheidung. Ohne sie infrage zu stellen. Ohne sie bewusst gefällt zu haben. Er nahm seine Hände vom Kristall, drehte sich um und hetzte zu seinem Freund Gilbert.
»Nein! Antilius, geh nicht! Ich schaffe es nicht alleine!«, rief Tahera ihm hinterher.
Antilius drehte sich nicht um. Er rechtfertigte sich nicht. Er ließ sie einfach allein. Für ihn war sein Entschluss weder richtig noch falsch. Es gab kein Richtig und kein Falsch. Das hatte er erkannt, als er das Innere des Kristalls erblickt hatte. Viel wichtiger war, dass er eine Entscheidung traf. Und das hatte er getan.
Antilius machte sich erst gar nicht die Mühe, die eiserne Umklammerung der Hand aus dem Spiegel von Gilberts Arm zu lockern. Stattdessen trat er beherzt mit dem Fuß auf das Handgelenk von Koros. Normalerweise hätte man ein Knacken der Knochen vernehmen müssen. Die Hand des gestürzten Herrschers war jedoch nicht normal. Es war ein letzter Funken von Macht in Koros verblieben, den er bis zum Äußersten ausreizte. Koros würde alles tun - nur nicht loslassen.
Antilius trat erneut zu. Diesmal fester. Dann noch einmal.
Koros ließ aber nicht locker.
»Tu doch etwas!«, schrie Gilbert seinen Meister an. Trotz seiner Panik glaubte er, schon allein bei dem Gedanken, wieder in den Spiegel gezogen zu werden, sich übergeben zu müssen.
Antilius griff nun nach den starren Fingern, die Gilbert allmählich die Blutzufuhr zur Hand abschnürten.
»Keine Angst, das haben wir gleich«, beruhigte er ihn.
Gilberts Kräfte schwanden viel zu schnell. Wenn Antilius nicht höllisch aufpasste, dann würden sie noch beide hineingezogen. Er trat die Hand, er schlug sie, er ging bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus. Hätte er etwas gehabt, mit dem er die Hand des Herrschers vom Arm hätte abtrennen können, er hätte es getan.
»Du wirst ihn nicht retten können. Nicht in diesem Leben!«, höhnte es aus dem Spiegel.
Dann passierte es. Ein schrilles Klirren betäubte seine Ohren.
Sein Kopf flog herum und auf einmal lief alles in Zeitlupe ab. Er sah, wie Tahera gegen eine der Seitenstreben des Würfelgerüsts des Zeittores geworfen wurde und das Bewusstsein verlor. Es war die erste Entladung des Kristalls, die sie erwischt hatte. Ohne die Hilfe von Antilius hatte sie es nicht geschafft, den Kristall zu beruhigen. Er würde jeden Moment zerspringen.
Antilius sah seinem Freund, dem einzigen Menschen, der diese Bezeichnung verdiente, in die Augen.
»Es tut mir leid!«, rief er, wobei seine Stimme in dem Getöse des wieder irre tanzenden Kristalls unterging.
War das der größte und letzte Fehler, den er begangen hatte?
Gilbert antwortete nicht. Er sah seinen Meister nur mit einem leichten Lächeln an. Er wollte nicht, dass Antilius von ihm ein vorwurfsvolles Gesicht sehen würde.
Sein Lächeln drückte seine tiefe Dankbarkeit aus für die letzten Tage, die sie zusammen verbracht hatten.
Ein lautes Brummen ertönte. Dann explodierte der Kristall.
Eine flache, grelle Energiewalze entlud sich. Sie sollte jedem Lebewesen im Umkreis von fünfhundert Metern die Füße vom Boden reißen. Sie schleuderte Antilius und Gilbert, der an den Spiegel gefesselt war, davon. Noch während sie beide durch die Luft wirbelten, musste Antilius mitansehen, wie Gilbert pfeilschnell in den Spiegel gezerrt wurde und darin verschwand.
Das Nichts
Antilius landete nicht unweit vom Spiegel, als die Energiewelle aus dem Kristall vorübergezogen war.
Er