»Wie kommt es, dass die dort hinten euch nichts antun? Ich kenne solche Typen aus dem Zoo … Uns Tiere haben sie nie so ignoriert wie euch.«
Rosalie warf einen Blick über ihre Schulter. »Ach die. Wir haben da unsere Methoden.« Verschwörerisch zwinkerte sie Bianca zu. Dann richtete sie wieder all ihre Aufmerksamkeit auf den flauschigen Ausreißer. »Möchtest du mit zu uns kommen? Du willst nicht wirklich hier draußen herumstromern, oder? Solange du in unserer Nähe bist, wird dir niemand etwas zuleide tun.«
»Aber wie –«, setzte das Tier an, unterbrach sich dann jedoch selbst: »Egal. Ich nehme das Angebot gerne an.«
»Dann komm raus da – in unserer Gegenwart wird dich niemand bemerken.« Rosalie stapfte voran.
Ganz langsam traute sich der Bär aus dem Geäst. Er war ausgewachsen, auf allen vieren ging er den Schwestern bis zur Hüfte. Auf den Hinterbeinen stehend würde er sie mit Sicherheit deutlich überragen. Sein braunes Fell glänzte im Schein der Straßenlaternen. Scheu sah er zwischen den beiden Schwestern hin und her. »Danke.«
»Keine Ursache«, sagte Bianca. »Hier entlang.«
So gingen sie gemeinsam durch die Nacht: Ein Bär und zwei junge Frauen. Wenn ihnen jemand entgegenkam, hatten die Passanten einen starren Blick auf dem Gesicht und beachteten die Drei nicht. Auch vorbeifahrende Menschen in Autos oder auf Rollern und Fahrrädern schenkten ihnen keine Aufmerksamkeit, ganz gleich, was für ein seltsames Bild sie bieten mussten.
Je weiter der Bär die Mädchen begleitete, desto mehr fragte er sich, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, ihnen zu folgen. Er schalt sich selbst dafür, dass er ohne Zögern zugestimmt hatte, anstatt zu überlegen, welche Hintergründe die beiden Mädchen haben könnten. Sie kannten ihn doch gar nicht. Immerhin gehörte seine Art zu den gefährlichen Tieren. Wohin brachten sie ihn? Und wieso hatten sie offensichtlich keine Angst vor ihm? Sollte er vielleicht lieber davonlaufen?
Im Vorbeigehen betrachtete er die Goldstein-Siedlung. So traumhaft der Stadtteil Schwanheim sich auch anhörte, mit solch einem Anblick hatte er nicht gerechnet: Meter für Meter wurde die Umgebung schäbiger. Gewaltige Plattenbauten ließen sich in der Dunkelheit erkennen. Müll auf der Straße, Reste abgerissener Plakate auf dem Boden. Von Weitem erblickte er eine Gruppe leuchtender Punkte in einem Häusereingang. Zu allem Überfluss steuerten seine Retterinnen ausgerechnet auf eines dieser heruntergekommenen Hochhäuser zu.
»So, einmal kurz durch den Mund atmen.« Bianca lächelte verlegen, als sie dem Bären und ihrer Schwester die Flügeltür aufhielt. Das Sicherheitsglas war an mehreren Stellen gesprungen.
»Sind das … Einschusslöcher?«, brach der Bär das erste Mal seit Verlassen des Parks sein Schweigen, wenn auch nur im Flüsterton. Doch von Bianca und Rosalie bekam er keine Antwort.
Kaum hatten sie das Foyer betreten, wusste der Bär, was das Mädchen mit ihrer Anmerkung zum Atmen gemeint hatte: Es roch bestialisch nach Erbrochenem und Urin.
»Psst«, machte Rosalie, als der Bär ein Brummen nicht unterdrücken konnte. »Schnell in den Aufzug rein. Oben wird es besser.«
Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich geräuschvoll und das große Tier hätte am liebsten Reißaus genommen bei dem Anblick, der sich ihm bot. Eine benutzte Spritze lag in der Ecke, neben einer kleinen gelben Pfütze.
»Du Armer.« Bianca strich ihm liebevoll über den pelzigen Kopf, als sie sich in die spärlich beleuchtete Kabine zwängten. »Für deine feine Nase muss dieser Gestank eine unglaubliche Qual sein.«
Der Bär wollte erneut brummen, als Bianca zu seinem Entsetzen auf den Knopf für das oberste Stockwerk drückte. Durch die Enge in dem Fahrstuhl musste er aufrecht stehen und versuchte sich einzureden, dass der Gestank schwächer wurde, wenn er seine Nase so weit wie möglich gen Decke reckte. Mit Müh und Not schaffte er es, die Fahrt leise zu überstehen. Als sich die Aufzugtür erneut öffnete, fiel er mehr heraus, als dass er ging. Glücklicherweise hatte Rosalie nicht zu viel versprochen: Hier war keine Spur mehr von dem widerlichen Geruch des Erdgeschosses.
Verblüfft sah er sich um. An der Decke flackerte eine dreckige Halogenleuchte. Im Halbdunkel konnte der Bär erkennen, dass etwas über ihm durch die Luft flog. Zuerst erschrak er, doch im nächsten Moment erkannte er, dass es sich dabei um unzählige Schmetterlinge handelte. Ziemlich große Exemplare sogar. Wenn sie in die Nähe des Lichtes kamen, konnte er ihre schillernden Farben erkennen. Ausgestattet mit unterschiedlichen Flügelformen schwirrten sie überall umher, doch keiner von ihnen flog durch das gekippte Fenster in die Nacht hinaus. Es war, als wären sie zufrieden damit, in diesem schäbigen Gebäude zu leben.
Der Bär riss seinen Blick von ihnen los und betrachtete die zwei Wohnungstüren auf der Etage. Die Tür zu seiner Rechten sah aus wie Tausend andere. Doch die auf der linken Seite war vollkommen anders. Regelrecht exotisch. Schon die Farbe war undefinierbar. Am Rand schien es, als wäre sie von einer dicken Schicht aus Flechten und Moos überzogen. Zur Mitte hin schimmerte sie in einem Lila-Ton. Das Ungewöhnlichste war allerdings, dass der Rahmen an zwei Stellen gebrochen war. Dicke Ranken wuchsen aus der Wohnung und zogen sich an der Wand seitlich der Tür entlang. Der Bär kannte die Pflanzenart nicht, doch sie wirkte definitiv nicht, als würde sie aus Europa stammen. Die Farbe der Äste ging ins Türkisfarbene und die Blätter und Blüten daran waren beinahe fluoreszierend. Mit ihrem Rosa und Gelb machten sie den ansonsten schäbigen Flur ein wenig farbenfroher.
»Was zur –?«, setzte der Bär an.
»Ach, das ist noch gar nichts«, unterbrach ihn Rosalie und kramte grinsend ihren Wohnungsschlüssel hervor. »Warte nur ab, bis du drinnen bist.«
Kaum schob sie die Tür auf, wusste der Bär, dass sie nicht übertrieben hatte.
»Also, ich kann dir das gerne ein bisschen erklären, wenn du magst«, begann Bianca. »Dann fällt es dir vielleicht leichter, diesen ganzen Zirkus hier zu verarbeiten.«
Schritt für Schritt führten die Schwestern den Bären tiefer in die Wohnung hinein, während er seinen Blick zur Zimmerdecke gerichtet hielt.
»Ich habe in den letzten Jahren schon so einiges erlebt. Ich würde behaupten, mich kann nichts schockieren. Aber was das hier alles soll, wüsste ich trotzdem gerne.«
»Aber natürlich.« Bianca freute sich offensichtlich über sein Interesse. Dann deutete sie rechts den Flur entlang. »Vorher lernst du allerdings noch unsere Mutter kennen.«
In der Wohnung brannten keine Lampen, aber dunkel war es nicht. Denn dort wuchsen noch viel mehr der fluoreszierenden Pflanzen und diese tauchten den schmalen Gang, in den der Bär nun trat, in ein faszinierendes Licht. Es flogen nicht nur Schmetterlinge, sondern auch andere Insekten und sogar exotisch anmutende Vögel über ihren Köpfen hinweg. Der Flur erstreckte sich noch einige Meter nach links, bis er einen Knick machte. Aus dieser Richtung hörte der Bär Tiergeräusche, die sich schwer zuordnen ließen. Und er war sicher, dass er eine Art Affe an den Ästen der bunten Ranken erkannt hatte.
Die Zwillinge wandten sich nach rechts und bedeuteten ihm, ihnen zu folgen.
»Mama?«, rief Bianca. »Wir haben Besuch mitgebracht.«
»Und zwar einen, der dich faszinieren wird«, fügte Rosalie halblaut hinzu und strich dem Bären über den Rücken. »Keine Angst. Hier bist du absolut sicher.«
»Das ist nicht, warum ich zögere. Vielmehr weiß ich nicht … Was ist das alles?«
Bianca drehte sich zu ihm um und kicherte. »Es sieht aus, wie man sich das Paradies vorstellt, nicht wahr? Wir werden dir alles erklären, sobald du uns deine Geschichte erzählt hast.«
In der Zwischenzeit hatten sie eine kleine Küche durchquert und waren in einem riesigen Wohnzimmer angelangt. In die Decke war eine Glaskuppel eingelassen, um die sich ebenfalls schimmernde Pflanzen rankten. Zwar fiel durch die fortgeschrittene Nacht im Moment kein Tageslicht durch das runde Fenster in den Raum, doch das tat diesem architektonischen Highlight keinen Abriss.
Gerade wollte der Bär