»Ich?« Meine Stimme quiekte.
»Natürlich Sie, sonst ist doch niemand anwesend.« Ihre wachen Augen durchbohrten mich, während ich mir über meine verborgenen Fantasien Gedanken machte, was mir wiederum heiße Wangen einbrachte. An Mrs Poirots Schmunzeln konnte ich sehr gut erkennen, dass die Hitze auch eine Röte mit sich gebracht hatte.
»Nein, das wäre nichts für mich.«
»Haben Sie schon einmal einen Roman von mir gelesen?« Wer interviewte hier eigentlich wen? Im Moment drehte Mrs Poirot geschickt den Spieß um.
»Ehrlich gesagt, habe ich gestern Abend mit Ihrem aktuellen Buch angefangen.« Die erneute Hitze, die mir ins Gesicht stieg, machte mich noch mehr verlegen. Was war nur mit mir los? Ich war im Grunde genommen nicht prüde, doch einer älteren Frau gegenüber zu sitzen und zuzugeben, dass man in der Nacht ihre erotischen Szenen gelesen hatte, das war selbst für mich zu viel.
»Welches?«
Ich rutschte kurz auf dem Leder herum. »Heiße Nächte mit Mister Millionaire«, gestand ich.
»Und?«
Verwirrt schaute ich sie an. Wollte sie jetzt von mir wissen, was ich davon hielt?
Da ich nicht antwortete, hakte sie nach. »Wie finden Sie den Roman bisher?«
Tatsächlich, sie wollte es ganz genau wissen. »Ich mag die Art, wie Sie schreiben.«
Das laute Lachen, das der Kehle von Clodette entwich, irritierte mich. »Sie sind herrlich.« Mit einem Zwinkern fragte sie weiter. »Und der Inhalt? Mögen Sie es, wenn ein Mann weiß, was er will und es sich auch nimmt? Zumindest solange niemand zu Schaden kommt?«
»Ehrlich gesagt, gefällt mir die Geschichte wirklich gut. Das hätte ich vorher nicht gedacht«, gab ich zu.
»Warum nicht?« Das Interview entwickelte sich definitiv anders, als ich es erwartet hatte. Im Geiste machte sich Mrs Poirot auf jeden Fall Notizen, das konnte ich in ihrem Gesicht lesen.
Was sollte ich darauf antworten? Ich fasste mir ein Herz und gab zu: »Wissen Sie, ich bin nicht gerade der romantische Typ und ich hab der Männerwelt abgeschworen. Der Mann, den Sie in Ihrem Buch beschreiben, der ist eine Märchenfigur für erwachsene Frauen. So einen gibt es doch im richtigen Leben gar nicht.« Von meinen Worten getroffen, riss Mrs Poirot die Augen auf, also erklärte ich rasch: »Die Männer, denen ich begegne, sind meistens eher Waschlappen. Kerle, wie ich sie mir wünschen würde, sind gepflegt, schauen gut aus und wissen was sie wollen. Aber im wahren Leben gibt es so etwas nicht. Über solche Wünsche bin ich schon hinweg und werde nicht mehr schwach. Aber Ihr Jamie ist ein Traum und träumen darf man.«
Das Lächeln, das mich zuvor so bezaubert hatte, war aus ihrem Gesicht verschwunden und hatte Traurigkeit Platz gemacht. »Kindchen, so desillusioniert?« In Gedanken versunken, schüttelte sie kurz den Kopf. »Die Frauen von heute sind das schnell, haben keine Geduld, sich den Richtigen zu suchen und um ihn zu kämpfen. Ihr tut mir alle sehr leid, denn die Liebe ist etwas, das man nicht mehr missen möchte, wenn man sie einmal erlebt hat.«
Die Eindringlichkeit, mit der sie mich anblickte, berührte mich zutiefst. Es war ihr wichtig, dass ich ihre Worte ernst und mir zu Herzen nahm.
»Ich habe sie erlebt und ich habe mich damals in einen Millionär verliebt. Einen, der wusste, was er wollte, gut aussah und gepflegt war. Und glauben Sie mir, Geld hatte zu keiner Zeit etwas damit zu tun, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte.« Sie sah verträumt aus und berührte dadurch etwas in mir, das mich sehnsuchtsvoll die Luft einziehen ließ. »Es war seine überlegene Art, die vielleicht vom Reichtum herrührte. Jedenfalls würde ich behaupten, dass ich ihn ebenso geheiratet hätte, wenn er ein armer Schlucker gewesen wäre. Leider hat ihn der liebe Gott vor fünf Jahren zu sich geholt. Das war der Auslöser, der mich zum Schreiben gebracht hat.«
Also hatte ich doch recht gehabt. Es steckte eindeutig mehr hinter der Geschichte. Viele Menschen wollen schreiben, aber die wenigsten setzen sich hin und ziehen es durch. Die meisten scheitern auf dem Weg zum Wörtchen Ende.
»Das tut mir sehr leid, Mrs Poirot.«
Was hätte ich auch sonst sagen können?
Ich fühlte mich hilflos, angesichts der Trauer, die plötzlich den Raum erfüllte, da ich selbst noch nie einen geliebten Menschen verloren hatte. Klar, konnte ich mich gut in andere hineinversetzen, aber das war dennoch nicht das Gleiche.
»Nennen Sie mich ruhig Mary.«
Ich fühlte mich geehrt, dass sie mir anbot, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen und dann noch mit ihrem richtigen. »Gerne, Mary. Ich bin Abigail.«
»Ist mir ein Vergnügen, Abigail.« Kurz nickte mir Mary zu, ehe sie weitersprach. »Es muss Ihnen nicht leidtun, Kindchen. Ich habe ein sehr erfülltes Leben mit meinem Mann gehabt und habe nun ein erfülltes Leben ohne ihn. Meine Erinnerungen kann mir niemand nehmen.« Das Lächeln, das sie mir schenkte, war wehmütig und ich fragte mich, ob es das wert war – jemanden zu lieben, ihn irgendwann zu verlieren und dann so sehr zu vermissen.
»Darf ich das verwenden?«
»Ja, das dürfen Sie. Und nun zu Ihren Fragen, bevor ich noch meine ganze Lebensgeschichte vor Ihnen ausbreite.«
Die Hausangestellte hatte ein gutes Gespür fürs Timing, denn sie kam genau zum richtigen Zeitpunkt in die Bibliothek und goss uns beiden den perfekt schmeckenden Tee in filigrane Porzellantassen ein. Nachdem Madeleine uns wieder verlassen hatte, stellte ich Mary alle meine Fragen, die sie mir gewissenhaft beantwortete. Nur die Letzte stieß bei ihr auf völliges Unverständnis.
»Mary, glauben Sie, dass Sie mit dieser Art von Literatur die Welt verändern?«
»Warum sollte ich die Welt verändern wollen?«, stellte sie mir die Gegenfrage.
»Nun ja, es herrscht im Internet eine rege Diskussion darüber, dass solche Romane die Emanzipation der Frau beeinflussen. Der weibliche Leser könnte das Bild von sich selbst neu malen und denken, dass die Unterdrückung der eigenen Meinung in Ordnung sei – dass es hipp ist, sich unterzuordnen«, gab ich zu bedenken.
Mit gespieltem Entsetzen blickte mich Clodette, oder besser gesagt Mary, an. »Ich glaube, Sie überschätzen da meine Möglichkeiten. Ich schreibe das, was ich selbst gern lesen würde oder manchmal auch erleben möchte. Ich denke nicht, dass Frauen von nun an ihre Rechte über Bord schmeißen, nur weil sie gern Liebesromane lesen. Außerdem entscheidet jeder in seinen vier Wänden selbst, wie weit er mit seinem Partner gehen möchte. Manche gehen da sogar recht weit, weiter als der Normalbürger es sich vorstellen kann, dennoch ist die Entscheidung nicht von der Allgemeinheit zu treffen, wie weit der Einzelne seine Vorlieben ausleben darf. Das ist ebenfalls ein Gut unserer Demokratie: jeder darf selbstständig entscheiden, solange er im Rahmen des Gesetzes bleibt. Von daher, vergeben Sie einer alten Frau die Ehrlichkeit, halte ich das für ausgemachten Blödsinn.«
Ich kritzelte eifrig alles auf das Papier und fand Mrs Poirot begeisterungswürdig. Sie sprach mir, nach meiner ausschweifenden Lesenacht, aus dem Herzen. Zuvor war ich vielleicht selbst ein wenig der Meinung gewesen wie viele Blogger, die sich im Internet Luft gemacht hatten. Doch nachdem ich fast zwei Romane dieses Genre verschlungen hatte, dachte ich anders.
»Vielen Dank für das wundervolle Interview.« Ich schlug das Notizbuch zu und blickte auf, direkt in das Gesicht der bezauberndsten Dame, der ich je begegnet war.
»Ich habe zu danken. Es war mir ein Vergnügen, mich mit einer so netten, jungen Frau zu unterhalten.« Elegant erhob sie sich, strich ihren Rock glatt und bedeutete mir, ihr zu folgen.
Als wir in der Halle ankamen und an der Tür standen, um Abschied zu nehmen, blieb Mary stehen und lächelte. »Wissen Sie was, liebe Abigail?« Fragend sah ich sie an. »Was halten Sie davon, morgen Abend auf einen kleinen Empfang hierher zu mir zu kommen? Ich würde mich freuen, wenn sich unsere Wege bald wieder kreuzen.« Erwartungsvoll strahlten ihre Augen. Selbst wenn ich es nicht gewollt hätte,