Unser Haus lag am nordöstlichen Stadtrand von Naharmbra, der alten Adelshochburg an den Ufern des Inneren Ozeans. Deswegen dauerte es nicht lange, bis wir das bebaute Gebiet hinter uns gelassen hatten und auf unseren Tygdulai über eine weite Ebene jagten, die nach einer ungewöhnlich langen Trockenzeit braun und rissig war. Stellenweise, wo die Trockenzeitfeuer gewütet hatten, war die Erde zu grau-schwarzer Asche verbrannt, die feiner als Staub in der Luft lag und in der Sonne flirrte. Sie kitzelte in Nase und Ohren, während wir so dahinbrausten. Ich liebte es und stellte mir vor, dass sich so ein Raumschiff fühlen musste, das durch einen Sternennebel flog.
Schließlich erhob sich das flache Land zu einer sanften Anhöhe, durch die sich eine tiefe Spalte zog, sodass das Plateau auseinanderklaffte, als hätte Wy während seines Kampfes mit dem Göttlichen Gegner sein doppelschneidiges Schwert in den Boden geschlagen. In diese Schlucht lenkten wir die Tiere und betraten damit unsere eigene Welt. Vairrynn, der oft ganze Tage auf seinem Tygdul unterwegs war und die Gegend um Naharmbra kannte wie seinen Handrücken, hatte diesen Ort gefunden und nur mir gezeigt. Der Eingang der Schlucht sah wenig vielversprechend aus; nur etwas Kness, ein zähes, unverwüstliches, wenn auch leicht brennbares Pilzgewächs, schlang sich in Ranken um die Klumpen von Sandstein, die den Boden bedeckten. Doch dort, wo die Schlucht in einem fast kreisrunden Kessel ihr Ende fand, lag ein Ort wie ein vergessener Winkel der Anderwelt: Sprudelnd ergoss sich eine Quelle in einen seichten Bach, der sich fast in der Mitte des Talkessels zu einem zeittiefen Teich erweiterte, um sich dann wieder zu verengen und allmählich in den rissigen Boden der Schlucht zu versickern. Dichtes Gras bedeckte den lehmigen Untergrund des Kessels, den Teich säumten schlanke Bäume, hochgewachsen für singisische Verhältnisse, zu deren Wurzeln Stauden später Kaymteh-Blumen wuchsen, unverschämt bunt für die Jahreszeit. Ich war fest davon überzeugt, dass in alter Zeit die Chyndrai hier verehrt worden waren, und tatsächlich hatten wir schon Bruchstücke blauen Marmors zwischen den Sandsteinen gefunden. Gonn-Memnáh hatte ich diesen Ort genannt, eben »Anderwelt«, denn genau das war er für mich; hier galten andere Regeln als in der Welt draußen, Regeln, die für mich einem Bruch der Naturgesetze gleichkamen.
Nahe bei der Quelle stand eine Gruppe von Sandsteinfelsen, fast wie absichtlich angeordnet und bequem genug, um eine Weile dort zu sitzen. Dort stieg Vairrynn von seinem Tygdul und begann, in den Satteltaschen zu kramen.
»Also, womit fangen wir heute an?«, fragte er dabei.
»Mathematik«, sagte ich, während ich von meiner Schygag-Dah sprang und sie laufen ließ. Mein Bruder verdrehte die Augen.
»Schon wieder? Nicht mehr lange, und du bist besser als ich. Dann gibt es nichts mehr, was ich dir beibringen könnte, und das wäre dann allein deine Schuld!«
Es war eine der typischen netten Bemerkungen, die er immer für mich übrig hatte, auch wenn ich genau wusste, dass nicht mehr dahintersteckte. Vairrynn war fast vier Jahre älter als ich und ging auf eine Schule, die diesen Namen auch verdiente. Allein deswegen war er mir schon um Längen voraus. Und außerdem war er ein Mann, oder würde zumindest bald einer sein; mein Sinn für Zahlen, den ich als eine abnorme Laune der Natur anzuerkennen bereit war, änderte nichts daran, dass meine geistigen Kapazitäten nie an seine heranreichen würden. Ich sagte ihm das nicht, weil er es lautstark bestritten hätte, aber selbst Vairrynn konnte nichts tun gegen den Lauf der Welt.
»Na gut, dann will ich dich für heute verschonen mit den ganzen Zahlen«, entgegnete ich auf seine gespielte Beschwerde. »Wie wär’s stattdessen mit ein wenig Religionsgeschichte?«
Vairrynn ließ von seiner Suche in den Satteltaschen ab und warf mir einen scharfen Blick zu. »Wieso das?«
Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich auf einen der Sandsteinfelsen. »Jorngiss hat Mutter vorhin erzählt, dass jemand namens Ktorram Asnuor zum Obersten Priester des Wy gewählt wurde. Und Mutter war … sehr beunruhigt.«
Vairrynn starrte mich an, unbehaglich intensiv. Dann stieß er schaudernd den Atem aus und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen sein Tygdul. Der Hengst wedelte nur kurz mit den Ohren, ansonsten rührte er sich nicht.
»Oh, das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut.«
»Warum nicht? Wer ist dieser Kerl?«
»Hast du schon mal was von den Monowyisten gehört?«
»Diese Typen, die behaupten, Lchnadra hätte keinen Anteil an der Schöpfung gehabt?« Es war schwer, in jenen Tagen nichts von den Monowyisten zu hören; ihre Prediger standen an allen Ecken und beschrien die Verderbtheit unserer Zeit, selbst in Naharmbra, wo derartiges Gelichter normalerweise nicht geduldet wurde. Dennoch hatte ich diesen Eiferern wenig Beachtung geschenkt. Ihre Tiraden über die Dekadenz des Singisischen Reiches unterschieden sich höchstens in ihrer Intensität von den Beschwerden meines Großvaters und anderer alter Onkel. Auch ihr Dogma die Göttin betreffend erschien mir nach allem, was ich von theologischen Streitfragen wusste (und als guterzogene Singisin war das nicht wenig), höchstens etwas radikaler als andere. Welche Rolle Lchnadra bei der Erschaffung des Seins genau gespielt hatte, war ein Born steter Uneinigkeit unter der Priesterschaft. Ich hatte das nie ganz nachvollziehen können. Aber ich war ja auch erst neun.
Vairrynn wiegte den Kopf. »Ja, so was haben sie bisher immer behauptet. Sie nennen Wy den Einen Erschaffer statt den Ersten, als würde das keinen Unterschied machen. Dabei reduziert man Lchnadra zu einem bloßen Werkzeug im Schöpfungsprozess, wenn man das tut. ›Am Anfang war Wy und nichts als Wy, und ER war die Fülle und die Leere und das All und der Geist.‹ – Diese Monowyisten tun so, als bestünde die Schöpfungsgeschichte aus nur einem Satz!«
»›Und da wollte ER Leben schaffen, und da schuf ER Leben, doch es blieb sich immer gleich‹«, griff ich den Faden auf. »›Und dann war da Lchnaachdra, DIE das Naach trug in IHREM Schoß, und da kam das Leben in Fluss, und es blieb in Fluss, und es fand sein Ende und seinen Neubeginn. Und es war gut.‹ – Was ist denn daran so schwer zu verstehen?«
Vairrynn schmunzelte, als hätte ich etwas Lustiges gesagt, nur irgendwie auch nicht; es war vielleicht das erste Mal, dass ich ein Lächeln sah, das keines war. »Wenn das nur alles wäre«, meinte er. »In letzter Zeit habe ich diese Straßenprediger immer wieder sagen hören, Lchnadra sei zusammen mit Dechal gefallen und eine Kreatur des Nichtseins, ganz wie der Göttliche Gegner.«
Ich riss die Augen auf und schlug das Zeichen der Göttlichen Einheit, schon zum zweiten Mal an diesem Tag. »Aber das ist blanke Blasphemie!«
Vairrynn kaute auf seiner Unterlippe. »Das habe ich bisher auch gedacht. Ich verstehe nicht, wieso, aber die Wypriester sehen das offenbar anders, wenn sie diesen Asnuor zu ihrem Ordensoberhaupt ernennen. Er ist einer der führenden Köpfe der Monowyistenbewegung. Und mit ihm als Obersten Priester werden die Monowyisten bald mehr sein als geifernde Straßenprediger.«
Ich nickte langsam vor mich hin. Nur der Vorsteher des Reiches und das Parlament, die Runde der Berufenen, standen über dem Obersten Priester des Wy. Trotzdem …
»Ich verstehe aber immer noch nicht, warum dieser Asnuor Mutter solche Angst macht, selbst wenn er will, dass alle Lchnadra für eine Kreatur des Bösen halten.«
Mein Bruder schüttelte ernst den Kopf. »Nicht nur Lchnadra. Wenn sie das Böse in sich trägt, dann gilt das auch für alle ihre Töchter. Für alle Frauen, Myn.«
Wir kamen spät nach Hause an diesem Abend. Zu spät. Hauptsächlich war das meine Schuld; ich tat immer mein Möglichstes, die Zeit im Gonn-Memnáh hinauszuziehen, und Vairrynn ließ sich meist nur zu