Schuld und Sühne. Fjodor M. Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor M. Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754174456
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möchte. Sie sehen, daß er gar nicht weggehen will!«

      Raskolnikow sprach laut und zeigte mit der Hand auf den Mann. Jener hörte es und wollte wieder auffahren, überlegte es sich aber und beschränkte sich auf einen verächtlichen Blick. Dann ging er noch an die zehn Schritte weiter und blieb wieder stehen.

      »Das kann man wohl machen, daß er sie nicht kriegt«, antwortete der Unteroffizier nachdenklich. »Wenn sie mir nur sagen wollte, wohin ich sie bringen soll, sonst ... Fräulein, Sie, Fräulein!« Er beugte sich wieder über sie.

      Jene machte plötzlich ihre Augen weit auf, blickte aufmerksam um sich, als hätte sie etwas verstanden, erhob sich von der Bank und ging in dieselbe Richtung zurück, aus der sie gekommen war.

      »Pfui, diese Schamlosen, sie lassen einen gar nicht in Ruhe!« sagte sie, mit der gleichen abwehrenden Handbewegung.

      Sie ging sehr schnell, doch wie früher schwankend. Der Geck folgte ihr, aber durch eine andere Allee, ohne sie aus den Augen zu lassen.

      »Seien Sie unbesorgt, ich werde es nicht zulassen«, sagte der Schutzmann energisch und folgte den beiden.

      »Ach, wie sich jetzt die üblen Sitten breit machen!« wiederholte er laut und seufzte.

      Raskolnikow fühlte sich plötzlich wie von einer Schlange gebissen: in einem Nu war er verändert.

      »Sie, hören Sie, he!« rief er dem Schutzmann nach.

      Jener wandte sich um.

      »Lassen Sie es! Was geht es Sie an? Geben Sie's auf! Soll er sich nur amüsieren (er zeigte auf den Gecken). Was geht Sie das an?«

      Der Schutzmann verstand ihn nicht und starrte ihn an. Raskolnikow lachte.

      »Ach!« sagte der Schutzmann, winkte mit der Hand und folgte dem Gecken und dem Mädchen. Er hielt Raskolnikow wohl für einen Verrückten oder für etwas noch Schlimmeres.

      »Meine zwanzig Kopeken hat er mitgenommen«, sagte Raskolnikow böse, als er allein geblieben war. »Soll er auch von dem anderen etwas nehmen und ihm das Mädchen überlassen; damit wird es auch enden ... Was habe ich mich auch mit meiner Hilfe hineinmischen brauchen? Kann ich denn helfen? Habe ich überhaupt ein Recht, zu helfen? Sollen sie doch einander bei lebendigem Leibe auffressen, was geht mich das an? Und wie wagte ich es, ihm diese zwanzig Kopeken zu geben? Gehören sie denn mir?«

      Trotz dieser seltsamen Worte wurde es ihm sehr schwer zumute. Er setzte sich auf die verlassene Bank. Seine Gedanken waren zerstreut ... Es fiel ihm überhaupt schwer, jetzt an irgend etwas zu denken. Er wollte sich vollkommen vergessen, alles vergessen, später erwachen und alles von neuem beginnen ...

      »Das arme Mädchen!« sagte er sich mit einem Blick auf die nun leere Ecke der Bank. »Sie wird zu sich kommen, wird etwas weinen, dann wird es die Mutter erfahren ... Zuerst wird sie sie schlagen, dann ordentlich mit Ruten züchtigen und dann vielleicht mit Schande aus dem Hause jagen ... Und wenn sie sie nicht aus dem Hause jagt, so erfährt es irgendeine Darja Franzowna, und mein Mädchen fängt an, sich auf den Straßen herumzutreiben ... Dann kommt sie bald ins Krankenhaus (so geht es immer denen, die bei sehr achtbaren Müttern leben und hinter ihren Rücken auf Abenteuer ausgehen), und dann ... dann kommt wieder das Krankenhaus ... Schnaps ... Kneipen ... und wieder das Krankenhaus ... nach zwei oder drei Jahren ist sie ein Krüppel, sie hat also im ganzen neunzehn oder achtzehn Jahre zu leben ... Habe ich denn nicht auch solche gesehen? Und wie kamen sie dazu? Alle auf diesem selben Wege ... Pfui! Sollen sie nur! Man sagt, das sei ganz in Ordnung, man sagt, so ein Prozentsatz müsse jedes Jahr ... wohl zum Teufel gehen, um die anderen zu erfrischen und sie nicht zu stören! Ein Prozentsatz? Was sie doch für nette Wörtchen haben: so beruhigend und so wissenschaftlich. Es heißt einmal: Prozentsatz, also braucht man keine weiteren Sorgen zu haben. Wäre es ein anderes Wort, dann ... dann wäre es vielleicht beunruhigend ... Und was, wenn auch Dunjetschka mal in einen Prozentsatz gerät? ... Und wenn nicht in diesen, so in einen andern ...

      Wohin gehe ich aber?« fragte er sich plötzlich. »Seltsam. Ich wollte doch irgendwohin. Nachdem ich den Brief gelesen hatte, ging ich aus dem Hause ... Auf die Wasiljewskij-Insel zu Rasumichin wollte ich, jetzt weiß ich es. Wozu aber? Wie kam mir gerade jetzt der Gedanke, zu Rasumichin zu gehen? Das ist doch merkwürdig.«

      Er staunte über sich selbst. Rasumichin war einer von seinen früheren Universitätskollegen. Es ist zu bemerken, daß Raskolnikow, als er auf der Universität war, fast keine Freunde hatte, allen aus dem Wege ging, niemand besuchte und auch ungern jemand bei sich empfing. Bald wandten sich auch die anderen von ihm ab. Er nahm keinen Anteil an den allgemeinen Versammlungen, Gesprächen oder Unterhaltungen. Er arbeitete mit großem Fleiß, ohne sich zu schonen; man achtete ihn deswegen, doch niemand liebte ihn. Er war sehr arm und zugleich hochmütig, stolz und verschlossen, als trüge er ein Geheimnis in sich. Manchen seiner Kollegen kam es vor, daß er auf sie alle, wie auf Kinder, von oben herabsehe, als hätte er sie alle wie in der Entwicklung, so auch im Wissen und in den Überzeugungen überholt und als betrachtete er ihre Überzeugungen und Interessen als etwas Minderwertiges.

      Dem Rasumichin hatte er sich aber aus irgendeinem Grunde etwas näher angeschlossen, oder genauer gesagt, er war ihm gegenüber mitteilsamer und aufrichtiger. Es war übrigens auch unmöglich, sich zu Rasumichin irgendwie anders zu verhalten. Rasumichin war ein ungewöhnlich lustiger und mitteilsamer Bursche, von einer Güte, die an Einfalt grenzte. Unter dieser Einfalt steckte aber auch viel Tiefe und Würde. Die besten seiner Kameraden fühlten das und liebten ihn. Er war gar nicht dumm, wenn er auch zuweilen einen einfältigen Eindruck machte. Sein Außeres war sehr eindrucksvoll: er war groß, hager, immer schlecht rasiert und schwarzhaarig. Zuweilen machte er Skandal und galt als stark. Eines Nachts hatte er in lustiger Gesellschaft mit einem Hiebe einen hünenhaften Hüter der öffentlichen Ordnung niedergeschlagen. Trinken konnte er unendlich viel, konnte sich aber auch des Trinkens enthalten; manchmal stellte er Dinge an, die ans Unerlaubte grenzten, er konnte aber auch nichts anstellen. Rasumichin war auch in der Beziehung bemerkenswert, daß ihn kein Mißerfolg entmutigte und keine noch so widrigen Verhältnisse zu erdrücken vermochten. Er war imstande, selbst auf einem Dache zu wohnen, höllischen Hunger und jede Kälte zu leiden. Er war sehr arm und verschaffte sich selbst seinen Unterhalt durch irgendwelche Arbeiten. Er kannte eine Menge Quellen, um aus ihnen zu schöpfen, natürlich durch ehrliche Arbeit. Einmal heizte er einen ganzen Winter seine Kammer nicht und behauptete, daß es so angenehmer sei, weil man in der Kälte besser schlafen könne. Zurzeit war er gezwungen, die Universität zu verlassen, doch nur vorübergehend, und bemühte sich aus allen Kräften, seine Verhältnisse zu bessern, um das Studium fortsetzen zu können. Raskolnikow hatte ihn seit vier Monaten nicht besucht, und Rasumichin kannte Raskolnikows Wohnung nicht. Vor zwei Monaten waren sie sich einmal zufällig auf der Straße begegnet, Raskolnikow hatte sich aber abgewandt und war auf die andere Straßenseite hinübergegangen, damit jener ihn nicht sehe. Rasumichin hatte ihn zwar gesehen, ging aber vorbei, weil er den Freundnicht belästigen wollte.

      »In der Tat, ich hatte doch vor kurzem die Absicht, Rasumichin zu bitten, daß er mir eine Arbeit oder Stunden verschaffe ...« erinnerte sich Raskolnikow, »womit kann er mir aber jetzt helfen? Angenommen, daß er mir Stunden vermittelt, angenommen, daß er mit mir die letzte Kopeke teilt, wenn er überhaupt eine Kopeke hat, so daß ich mir sogar ein Paar Stiefel kaufen und meinen Anzug instandsetzen lassen kann ... hm ... Nun, und weiter? Was fange ich mit den Fünfkopekenstücken an? Brauche ich denn jetzt das? Es ist einfach lächerlich, daß ich zu Rasumichin wollte ...«

      Die Frage, warum er zu Rasumichin aufgebrochen war, beunruhigte ihn mehr, als er sich dessen bewußt war; mit Unruhe suchte er in dieser anscheinend so gewöhnlichen Handlung einen unheilkündenden Sinn.

      »Wie, will ich denn alles durch Rasumichin allein in Ordnung bringen, habe ich denn in Rasumichin den letzten Ausweg gefunden?« fragte er sich erstaunt.

      Er dachte nach und rieb sich die Stirn, und plötzlich, ganz von selbst und unerwartet, kam ihm nach langen Überlegungen ein sehr seltsamer Gedanke.

      »Hm ... zu Rasumichin«, sagte er