Bis zum Grabe Deine
Pulcheria Raskolnikowa.«
Fast die ganze Zeit, als Raskolnikow diesen Brief las, gleich von Anfang an, war sein Gesicht feucht von Tränen; als er ihn aber zu Ende gelesen hatte, war es bleich, von einem Krampfe verzerrt, und ein schweres, galliges, böses Lächeln spielte um seine Lippen. Er ließ seinen Kopf auf das magere und abgenutzte Kissen fallen und dachte lange, lange nach. Mächtig schlug sein Herz, und mächtig regten sich seine Gedanken. Schließlich wurde es ihm in dieser gelben Kammer, die einem Schrank oder einem Koffer glich, zu dumpf und zu eng. Seine Blicke und Gedanken verlangten nach Freiheit und Raum. Er ergriff seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne Angst, jemand auf der Treppe zu begegnen; er hatte das ganz vergessen, er schlug die Richtung nach der Wassiljewski-Insel durch den W–schen Prospekt ein, als eile er in einer wichtigen Angelegenheit hin; er ging aber, wie immer, ohne auf den Weg zu achten, vor sich hinflüsternd und sogar laut mit sich selbst sprechend, wodurch er die Vorübergehenden in Erstaunen setzte. Viele hielten ihn für betrunken.
IV
Der Brief der Mutter hatte ihn müdegequält. Doch über den wichtigsten Punkt, den Kardinalpunkt, war er auch nicht einen Augenblick im Zweifel, selbst als er den Brief noch nicht zu Ende gelesen hatte. Die Hauptsache war in seinem Kopfe beschlossen, und zwar unumstößlich beschlossen: »Aus der Heirat wird nichts, solange ich lebe, und zum Teufel mit dem Herrn Luschin!«
»Denn die Sache ist ja ganz klar«, murmelte er vor sich hin, grinsend und über den Erfolg seines Entschlusses im voraus triumphierend. – »Nein, Mama, nein, Dunja, ihr werdet mich nicht anführen! ... Und sie entschuldigen sich noch, daß sie mich nicht um Rat gefragt und die Sache ohne mich entschieden haben! Das will ich meinen! Sie glauben, daß es nicht mehr zu zerreißen ist; wir wollen sehen, ob es geht, oder nicht geht! Was für eine kapitale Ausrede: ›Pjotr Petrowitsch ist so beschäftigt, so furchtbar beschäftigt, daß er nicht anders als mit der Post, beinahe mit der Eisenbahn heiraten kann!‹ Nein, Dunjetschka, ich sehe alles und weiß, worüber du mit mir so vielzu sprechen hast; ich weiß auch, worüber du dachtest, als du die ganze Nacht im Zimmer auf und ab gingst und vor dem Bilde der Mutter Gottes von Kasan betetest, das in Mamas Schlafzimmer steht. Der Gang nach Golgatha ist wohl schwer. Hm! ... Es ist also schon endgültig beschlossen: einen tüchtigen Geschäftsmann und Rationalisten belieben Sie zu heiraten, Awdotja Romanowna, der sein Kapital besitzt (der schonsein eigenes Kapital besitzt: das klingt solider und eindrucksvoller), der zwei Stellungen bekleidet, die Überzeugungen der jüngsten Generation teilt (wie Mama schreibt) und auch gut zu sein scheint, heiraten! Großartig! ... Großartig! ...
Es ist immerhin interessant, warum Mama mir das über ›die jüngste Generation‹ geschrieben hat: bloß zur Charakteristik der Person, oder mit einer weiteren Absicht: mich für Herrn Luschin günstig zu stimmen? O diese Schlauen! Interessant wäre es, auch noch diesen Umstand aufzuklären: wie weit ging ihre gegenseitige Aufrichtigkeit an jenem Tage, in jener Nacht und in der ganzen folgenden Zeit? Wurde alles in Wortegekleidet, oder hatte eine jede erraten, was die andere denkt und auf dem Herzen hat, so daß man es gar nicht laut auszusprechen brauchte und es sogar überflüssig wäre, ein Wort zu viel zu sagen? Wahrscheinlich verhielt es sich zum Teil so; das ist aus dem Brief zu ersehen: der Mama kam er ein wenigschroff vor, und die naive Mama kam sofort zu Dunja mit ihren Wahrnehmungen. Jene aber wurde natürlich böse und antwortete ihr ›geärgert‹. Das will ich meinen! Wer wird nicht böse auffahren, wenn die Sache auch ohne die naiven Fragen verständlich ist und wenn alles fest beschlossen ist, so daß man nicht mehr zu reden braucht! Und warum schreibt sie mir das: ›Liebe Deine Schwester Dunja, Rodja; liebe sie so, wie sie dich liebt‹? Hat sie nicht heimlich Gewissensbisse, daß sie sich entschlossen hat, die Tochter dem Sohne zum Opfer zu bringen? ›Du bist unsere Hoffnung, du bist unser Alles!‹ – O Mama! ...«
Er schäumte immer mehr vor Wut, und wäre ihm jetzt Herr Luschin begegnet, er hätte ihn wohl erschlagen!
»Hm! ... Es ist wahr« – fuhr er fort, den Wirbel der Gedanken, die in seinem Kopfe schwirrten, verfolgend –, »es ist wahr, daß man an einen Menschen, den man wirklich kennenlernen will, ganz allmählich und vorsichtig herantreten muß: aber Herr Luschin ist mir klar. Die Hauptsache: ›Ein tüchtiger und anscheinendguter Mensch‹; das ist doch kein Spaß: das Gepäck hat er auf sich genommen und befördert den großen Koffer auf eigene Kosten! Und der sollte nicht gut sein! Sie aber, die Brautund die Mutter mieten einen Bauern und fahren in einem mit Bastmatten gedeckten Wagen (ich bin ja selbst mit den dortigen Fuhrwerken gefahren)! Das macht doch nichts! Es sind ja nur neunzig Werst, ›und weiter fahren wir glücklich in der dritten Klasse‹ – an die tausend Werst. Ist auch durchaus vernünftig: ein jeder strecke sich nach seiner Decke; aber Sie, Herr Luschin, was denken Sie sich? Sie ist doch Ihre Braut! ... Und sollte es Ihnen unbekannt sein, daß die Mutter für diese Reise ihre Pension verpfändet? Natürlich, es ist ein Kompaniegeschäft, ein Unternehmen mit gleichen Einlagen und gleichen Vorteilen, darum müssen auch die Auslagen geteilt werden; Brot und Salz sind gemeinsam, den Tabak hat jeder für sich, wie es im Sprichworte heißt. Der tüchtige Geschäftsmann hat sie aber ein wenig beschummelt; das Gepäck kostet viel weniger als ihre Reise, vielleicht kostet es ihm überhaupt nichts. Sehen denn die beiden nichts, oder wollen sie es nicht sehen? Sie sind doch zufrieden, zufrieden! Und wenn man bedenkt, daß das nur die Blüten sind und die eigentliche Frucht erst nachkommt! Was ist dabei das wichtigste? Es ist nicht der Geiz, nicht die Knauserei, sondern der Ton des Ganzen. Das ist ja der künftige Ton nach der Hochzeit, eine Prophezeiung ... Ja, und die Mama, warum ist sie auf einmal so verschwenderisch? Mit was kommt sie nach Petersburg? Mit drei Rubeln oder mit zwei ›Banknoten‹, wie jene sagt ... die Alte ... hm! ... Wovon hofft sie später in Petersburg zu leben? Sie ist ja schon irgendwie dahinter gekommen, daß sie mit Dunja, selbst in der ersten Zeit nach der Verheiratung nicht leben können wird! Der liebe Mensch hat wohl auch hier irgendeine Bemerkung fallen lassen, hat einen Willen geäußert, obwohl Mama es mit beiden Händen zurückweist: ›Ich nehme die Einladung nicht an.‹ Was denkt sie sich, worauf hofft sie noch: auf die