»Vor mir.« Die Worte waren draußen, bevor Zweifel einen Gedanken fassen konnte.
»Du weißt, dass das Blödsinn ist.«
»Damals wusste ich es nicht. Mutter war tot und du bist drei Tage nach der Beerdigung verschwunden.«
»Du warst alt genug und Ed hat jeden Monat einen Scheck …« Zweifel winkte ab.
»Ich weiß, ich weiß.« Er seufzte zum dritten Mal an diesem Morgen. »Warum das alles wieder aufwärmen?«
»Ed hat nicht davon angefangen.«
»Wenn man davon absieht, dass du dein Comeback in meiner Küche probst.«
»Das hielt Ed für am effektivsten.« Zweifel ließ seine flache Hand auf die Küchentheke fallen. Das Problemlösungs-räderwerk in seinem Kopf hatte bereits zu rattern begonnen. Er hatte jedoch keine Lust, die Probleme seines Vaters zu lösen.
»Effektiv vielleicht, was den Zuckerverbrauch angeht, aber nicht erfolgreich, Dad. Ich kann dir nicht helfen. Meine neue Wohnung ist nicht groß genug.«
»Das hat Ed schon begriffen. Du willst nicht. Trotzdem wäre es interessant, zu erfahren, warum dieser Ortswechsel …« Zweifel unterbrach ihn.
»Das überlass ich deiner Fantasie. Ein paar Gründe sind ja schon gefallen. Such dir einen aus.« Edwin Zweifel fuhr mit beiden Händen durch seinen wirren weißen Haarschopf, dann schnalzte er mit der Zunge und wandte sich erneut zum Gehen.
»Falls du Hilfe brauchst«, sagte er, schon im Flur mit der Hand auf der Klinke und ohne seinen Sohn anzusehen, »wird Ed dich schon finden.« Er öffnete die Eingangstür, trat ins Treppenhaus und zog sie hinter sich zu. Zweifel starrte in den Flur, der so leer war wie immer und ertappte sich bei dem Gedanken, dass Ed das gelingen möge. Als er eine halbe Stunde später seine Wohnung verließ, entdeckte er die Visitenkarte auf der Matte vor der Eingangstür. „Ed Z.“ stand darauf, „Überlebenskünstler“. Handschriftlich war eine Mobilfunknummer ergänzt.
Jocelyn sah Melzick als erste und winkte ihr mit einem zusammengerollten Transparent durch die offene Tür zu. In den beiden Großraum-Waggons des 9 Uhr 30-Zuges der Bayerischen Regio-Bahn von Bad Wörishofen nach Augsburg herrschte ein Gedränge wie in einem Airbus, nachdem der Pilot die Turbinen abgeschaltet und die Passagiere gebeten hat, sitzenzubleiben. Etwa zehn bis fünfzehn Senioren, allesamt im neonfarbenen Radler-Dress bewachten mit grimmigen Blicken die E-Mountainbikes, mit denen sie eine Expedition ins Altmühltal wagen wollten. Der Anführer, der als einziger seinen Fahrradhelm aufbehalten hatte, erteilte seinem Trupp laustarke Instruktionen. Keiner hörte ihm zu, außer den Fahrgästen, die die Gefahr zu spät erkannt hatten und aus Platzmangel gezwungen waren, in seiner Hörweite für die nächste Stunde sitzenzubleiben. Zacharias hatte den Wichtigtuer rechtzeitig bemerkt und mit Jocelyn einen Platz im vorderen Waggon ergattert. Melzick schloss ihr klappriges Dreigangrad ab und hastete den Bahnsteig entlang. Ein nerviges unerbittliches Piepen zeigte an, dass es höchste Zeit war. Zacharias blockierte wie zufällig die Lichtschranke der automatischen Tür. Mit dem letzten Piepton sprang Melzick auf.
»Zurückbleiben! Zefix!«, fauchte die Stimme des Zugführers aus dem Lautsprecher über ihnen. Zacharias grinste seine Schwester an und hob die Hand. Melzick schlug klatschend ein und nickte Jocelyn zu, die sie auf ihre scheue Art anlächelte.
»Jetzt nehmen Sie doch mal das Gelump aus meinem Gesicht!«, keifte eine Frauenstimme hinter dem Rücken der jungen Afrikanerin. Jocelyn versuchte, das Transparent auf der Gepäckablage unterzubringen. Zacharias half ihr dabei und murmelte eine Entschuldigung in Richtung der etwa fünfzigjährigen, korpulenten Frau im hellblauen Kostüm, die den sorgfältig frisierten Kopf schüttelte.
»Dürfen die überhaupt mit dem Zug fahren?«, war dumpf eine zweite Stimme zu hören. Die Nägel der vorgehaltenen Hand waren korallenrot lackiert, passend zur lila überhauchten Kurzhaarfrisur der Fragestellerin.
»Ich dachte, die dürfen ihren festen Bereich, also ihr Reservat oder wie man das nennt, nicht so einfach verlassen«, schob sie hinterher.
»Die Frage ist doch, wer denen die Fahrkarte zahlt«, mischte sich ein blasser, hochgewachsener junger Mann im enggeschnittenen silbergrau glänzenden Anzug ein. Sein Adamsapfel kämpfte gegen den straffgezogenen Knoten seiner schmalen Krawatte. Melzick wechselte einen Blick mit Zacharias und berührte Jocelyn leicht am Unterarm. Am besten ignorieren, war die Devise.
»Ich geb euch bis Buchloe Zeit«, dachte Melzick jedoch für sich. »Bis dahin dürft ihr euch auskotzen, von mir aus. Wer uns danach noch mit einer derartigen Wortmeldung beglückt, wird eine Bewusstseinserweiterung erleben.« Zacharias lehnte wegen der Enge lässig mit einer Schulter an der automatischen Tür. Jocelyn neben ihm wirkte so, als wollte sie sich unsichtbar machen. Melzick fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es eine gute Idee von Zacks Freundin war, an der Demo teilzunehmen. Sie musterte stirnrunzelnd ihren Bruder, der sich in seinen ausgebeulten Jogginghosen, dem Schlabbershirt und den viel zu großen Sneakers sichtlich wohl zu fühlen schien.
»Guck nicht so«, sagte er, »das sind meine besten Klamotten.«
»Schon klar. Wie viele Leutchen werden wir denn sein?«, fragte sie. Zacharias zog die Nase kraus.
»Also, angemeldet sind 2000, aber Phil rechnet mit fast 5000. Aus Berlin, Köln und Hamburg haben sich große Gruppen angesagt.«
»Phil ist wer nochmal?«
»Der hat die Demo initiiert und organisiert. Du hast ja keinen Schimmer, was für’n Aufwand das ist.«
»Doch, hab ich.« Zacharias verdrehte die Augen.
»Schwesterchen, du kennst doch nur die andere Seite.«
»Ich war mal in München dabei. 30000 Leute, Marienplatz, fünfunddreißig Grad in der Sonne. Ich weiß, wie so was abläuft.«
»Ach ja? Wie viele ›Begleiter‹ waren denn da?« Zacharias sprach die Anführungszeichen mit. Melzick zuckte mit den Schultern.
»Werden wohl so um die 800 Kollegen gewesen sein.«
»Und was, glaubst du, lässt sich leichter organisieren?« Bevor Melzick antworten konnte, meldete sich der blasse Anzugträger zu Wort, der direkt hinter ihr stand.
»Ich hab gelesen, dass diese Demonstrationen«, er sprach dieses Wort in Großbuchstaben, »den Steuerzahler jedes Jahr Millionen kosten. Millionen!« Die korpulente Dame in hellblau fühlte sich angesprochen.
»Es ist einfach unglaublich. Was gibt es denn überhaupt zu demonstrieren? Hier in Deutschland?«
»Nächster Halt Buchloe. Bitte in Fahrtrichtung rrrächts aussteigen«, mischte sich der Zugführer zackig ein.
»Und dann kommen welche von sonst woher und machen ihren grässlichen Zinnober hier bei uns. Zuhause, da wo sie hingehören, würden sie dafür ausgepeitscht«, meinte die Frau mit den grellroten Fingernägeln. Jocelyn wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Ihre Gesichtsfarbe war noch einen Hauch dunkler geworden. Zacharias holte tief Luft. Melzick stupste ihn an und schüttelte den Kopf. Der Zug hielt. Es stiegen nur wenige Fahrgäste aus. Aus dem hinteren Waggon waren empörte Stimmen zu hören. Die Mountainbike-Schwadron kam mit einer Gruppe rüstiger Wanderer, jeder mit einem Survival-Paket von der Größe eines Seesacks auf dem Rücken, ins Gehege. Die Woche über wurden die Egos gehätschelt und gepflegt, um an Samstagvormittagen in den Zügen der DB aufeinander zu prallen. Die Stimmung heizte sich auf. Melzick wartete auf die nächste Durchsage.
»Zurrrückbleiben«, blökte der Zugführer. Der Zug nahm Fahrt auf und verließ den Bahnhof Buchloe.
»Man kann überhaupt nicht mehr ungestört einkaufen«, beschwerte sich die Dame in hellblau. »Ständig diese plärrenden Jugendlichen mitten in der Innenstadt zur Hauptgeschäftszeit.« Längst nicht mehr hinter vorgehaltener Hand gab die andere Diskussionsteilnehmerin ihren scharfen Senf dazu.
»Kein Deutsch können, aber dämliche Parolen grölen.«
»Wissen