Mord aus gutem Hause. Achim Kaul. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Achim Kaul
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753182087
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ungerührt.

      »Lassen Sie den Mann in Ruhe!«, fuhr ihn der Arzt an. »Er steht unter Schock.«

      »Wo bringen Sie ihn hin?«

      »Ins Zentralklinikum. Da können Sie sich morgen nach ihm erkundigen, nicht eher.« Der Arzt gab den Sanitätern ein Zeichen, die sich sofort daran machten, den Mann in den Notfallwagen zu verfrachten.

      »Ich will aber mit«, schluchzte das Mädchen. Der Arzt nickte kurz. Keitel beorderte Griebl zu den anderen Beamten, die die Leiche bewachten, holte einen Block hervor und notierte etwas. Dann warf er Melzick einen scharfen Blick zu.

      »Gibt es weitere Opfer?« Melzick rang mit sich. Sie wusste, es würde Ärger geben, aber sie konnte Jocelyn die Begegnung mit der Polizei nicht ersparen.

      »Eine junge Frau hat einen Streifschuss abbekommen. Sie ist dort in dem Klamottenladen.« Er setzte seine verspiegelte Sonnenbrille wieder auf.

      »Wer hat das veranlasst?« Es schien eine Marotte von ihm zu sein, immer die Frage nach dem Verantwortlichen zu stellen, so als würde er ständig nach einem Schuldigen suchen. Wer angreift, ist im Vorteil und vermeidet damit, sich selbst rechtfertigen zu müssen. Diese Strategie schien Keitel verinnerlicht zu haben. Melzick hatte für derlei strategische Spitzfindigkeiten keinen Nerv.

      »Der gesunde Menschenverstand. Wir mussten die junge Frau an einen ruhigen Ort bringen. Vermutlich steht sie auch unter Schock.«

      »Wer ist wir?«

      »Mein Bruder und ich.«

      »Ihr Bruder hat also auch an der Demonstration teilgenommen?« Sie nickte.

      »Fragen Sie mich nicht, wer das veranlasst hat. Womöglich die Regierung mit ihrer Klimapolitik.«

      »Sie sind mit der Regierung nicht einverstanden?«

      »Wird das jetzt eine politische Debatte oder haben Sie auch noch andere Fragen auf Lager? Zum Beispiel: Wie finden wir raus, von wo geschossen wurde? Woher wissen wir, dass nicht noch mehr Kugeln auf ihre Opfer warten? Wie schaffen wir es, eine Panik zu vermeiden?« Er richtete seine engstehenden, hinter der Sonnenbrille verschanzten Augen auf ihre hennaroten Dreadlocks.

      »Panik? Unwahrscheinlich. Fünfundneunzig Prozent der Demonstranten sind auf dem Rathausplatz versammelt, außer Sicht- und Hörweite. Apropos — wie viele Schüsse haben Sie gehört?«

      »Keinen einzigen. Zum Glück.« Er hob die Augenbrauen so hoch, dass sie über dem Rand der Sonnenbrille zum Vorschein kamen. »Ist doch logisch, Kollege. Wir würden kaum so gemütlich hier rumstehen, wenn es vorhin ordentlich geknallt hätte.« Keitel passte es nicht, von einer jungen Frau mit einer Frisur, die jeden Rauschgiftspürhund hätte aufjaulen lassen, als Kollege angeredet zu werden. Doch vorerst wusste er nicht, wie er das unterbinden sollte. Melzick war bereits vorausgegangen. Von der Demonstration waren nur noch ein paar Nachzügler unterwegs, die es eilig hatten, zum Rathausplatz zu kommen. Sie achteten nicht auf das halbe Dutzend Polizisten, die um irgendetwas herumstanden. Sie nahmen die Abkürzung durch die kurze Querstraße „Unter dem Bogen“. Keitel warf einen missmutigen Blick auf den Bettler mit seinem Hund, bevor er Melzick folgte.

      Carlo wusste nicht, was er tun sollte. Mit der Polizei wollte er auf keinen Fall etwas zu tun haben. Aber er brauchte dringend Hilfe. Sokrates blutete und winselte leise vor sich hin, schon seit ein paar Minuten. Das Blut hatte Carlo gerade eben erst entdeckt. Er kam mühsam auf die Beine und folgte dem großen Polizisten mit der Sonnenbrille. Sokrates hing schwer in seinen Armen und wurde ruhiger. Beide ahnten sie, was los war. Carlo murmelte ein paar Worte.

      »Bald ist alles gut, mein Alter.« Er fühlte, wie sich eine Klammer um seine Kehle legte und riss sich zusammen. Als er das Modegeschäft betrat, kam ihm die junge Frau entgegen. Sie machte ein ernstes Gesicht.

      »Tut mir leid, Carlo, aber meine Chefin sieht es nicht gern, wenn …« Er schüttelte den Kopf und unterbrach sie.

      »Vielleicht kann jemand etwas für meinen Hund tun.« Weiter hinten im Verkaufsraum hatte Carlo die grellorangene Kleidung eines Rettungssanitäters oder Arztes gesehen.

      »Was ist mit ihm?«, wollte die junge Frau wissen. »Du hast ja Blut an den Händen!«, rief sie erschrocken.« Alarmiert drehten sich die Personen im Hintergrund nach ihr um. Melzick kam nach vorn, dicht gefolgt von Keitel und der Geschäftsinhaberin.

      »Nina, ich habe Ihnen doch oft genug gesagt, dass ich keine Hunde …«

      »Er ist verletzt! Wir müssen ihm helfen.«

      »Wie — verletzt?«

      »Er blutet.« Carlo unterbrach den Disput zwischen der jungen Frau und ihrer Chefin.

      »Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist.«

      »Vielleicht hat der Hund auch einen Schuss abbekommen«, sagte Melzick. Sokrates atmete ganz flach und fing plötzlich an, wie wild zu zappeln. Carlo konnte ihn kaum festhalten und legte ihn vorsichtig auf den Boden. Der Geschäftsinhaberin blieb der Protest im Halse stecken, als sie Carlos Blick auffing.

      »Wer sind Sie?«, wollte Keitel wissen, der seinen Notizblock schon wieder in der Hand hatte. Carlo beachtete ihn nicht. Er saß in der Hocke neben seinem vierbeinigen Compagnon und streichelte mechanisch seinen Rücken. Sokrates hatte die Augen geschlossen.

      »Darf ich mal?«, fragte der Mediziner, der Jocelyns Wunde versorgt und ihr ein Beruhigungsmittel gegeben hatte. Zacharias blieb bei ihr im Hintergrund. Im Augenblick hatte er nur eine Sorge. »Ich bin zwar kein Veterinär«, brummte der Arzt leise, nachdem er Sokrates untersucht und ein kleines Loch in der Vorderbrust ertastet hatte, »aber …«. Er legte Carlo eine Hand auf die Schulter und brauchte kein weiteres Wort zu sagen. Durch Sokrates’ Körper lief ein heftiges Zittern. Dann lag er still. Er war tot. Carlo stand auf. Er wusste nicht, wo er hinsehen sollte und begann, über seinen rechten Unterarm zu streichen, immer wieder, als wollte er sich trösten. Keitel räusperte sich und wollte seine Frage wiederholen. Carlo riss sich zusammen und schaute dem Polizisten gerade ins Gesicht. In der Spiegelung der riesigen Sonnenbrille bemerkte er, dass er ganz blass geworden war.

      »Mein Name ist Karl, Eberhard Karl.« Leise fügte er hinzu: »Und das ist Sokrates«.

      »Du heißt gar nicht Carlo?«, hauchte die junge Verkäuferin.

      »Doch«, erwiderte Carlo, »für meine Freunde schon.« Melzick fühlte mit dem alten Mann, aber sie musste die Frage stellen.

      »Sie saßen drüben auf der anderen Seite, gegenüber vom „Weißen Hasen“. Ich hab Sie gesehen. Ein paar Meter neben Ihnen wurde ein Mann angeschossen. Und Sokrates ist wohl auch von einer Kugel getroffen worden. Haben Sie keine Schüsse gehört?« Carlo schüttelte den Kopf.

      »Die verdammten Trommeln waren doch so laut und zwar pausenlos. Von dem Mann neben mir hab ich nichts mitbekommen. Ich hab die ganze Zeit nur auf die Demonstration geachtet. Und Sokrates beruhigt.« Melzick nickte und sah Carlo lange in die Augen.

      »Er war schon sehr alt, nicht wahr?«

      »Ja.«

      »Ist Ihnen denn an der Demonstration etwas aufgefallen? Hat sich jemand auffällig benommen? Ist vielleicht plötzlich weggerannt oder in eine andere Richtung gelaufen?« Carlo überlegte und während er die Augen schloss und nachdachte, spürte sie deutlich, wie Keitel neben ihr unruhig wurde. Das Verhalten dieser jungen Kollegin ging ihm entschieden gegen den Strich. Er schob sich an ihr vorbei und baute sich vor Carlo auf.

      »Also, Mann, Sie haben die Frage doch verstanden, oder? Was ist nun?« Carlo öffnete die Augen und sah ihn ruhig an. Er hatte das Gefühl, nicht mehr vor der Polizei auf der Hut sein zu müssen. Jetzt, wo Sokrates tot war, konnte ihm nichts Schlimmeres mehr passieren.

      »Ich rede nicht gern mit meinem Spiegelbild«, brummte er und deutete auf die Sonnenbrille. Keitel nahm sie mit einer raschen Bewegung ab.

      »Ist es so besser?« Carlo strich mit seiner Hand über die Augen.

      »Da war ein Mann«, sagte er, unbeeindruckt von Keitels Aggressivität.